Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
hochziehen. So wie jemand einen schweren Holzbottich mit einer rostigen Winde aus unsichtbaren Tiefen hochkurbelt.Mit großer Kraft. Und was sie schließlich fand, hatte sie gar nicht sehen wollen. Aber trotzdem konnte sie nicht aufhören zu suchen.
Eine Aufgabe, an der sie fast zerbrach.
Währenddessen ging der Alltag weiter. Der war schwer genug. Das Zusammenleben mit einer Mutter, die sie als unberechenbar und fremd empfand. Immer wieder Zeitlücken.
Plötzlich in der Schule die Aufgabe, einen Lebenslauf zu schreiben. Alle anderen konnten das. Sie nicht. Tagelang durchwühlte Traute zu Hause heimlich alte Dokumente. Und stellte verwundert fest, was sie im Laufe ihres Lebens schon alles gemacht hatte: Schwimmen, Eiskunstlauf, Ballett, konfirmiert worden war sie, verschiedene Schulen hatte sie besucht, in verschiedenen Städten hatte sie gelebt.
Dies alles prägte sie sich ein. Machte es zu ihrer eigenen Geschichte.
Im Umgang mit der Mutter lernte sie, dass nur Gehorsam, absoluter, bedingungsloser Gehorsam die Chance barg, nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Aber eine Garantie war es auch nicht.
Widerstand war unmöglich. Schon Widerspruch führte mit Sicherheit zu einem verlorenen Wochenende. Schlechte Zeugnisse merkwürdigerweise auch. Geburtstage ebenfalls. Urlaube und Reisen schienen automatisch zu verlorener Zeit zu führen. Ostern und Weihnachten waren häufig in Dunkel getaucht. Und oftmals gab es überhaupt keinen Grund.
Aber sie hörte nicht auf, sich danach zu fragen.
Manche Männer aus dem Bekanntenkreis, denen man auf der Straße begegnete, auf die man zuging, um sie höflich zu begrüßen, wie es sich eben gehörte, lösten plötzliche Panik aus und führten geradewegs zu verlorenen Stunden oder Tagen.
Verletzungen tauchten grundlos auf. Brandblasen. Blut an den Beinen. Schmerzen im Bauch. Aber ebenso schnell verschwanden sie wieder.
Auch für die Schreie, die sie hörte, nachts, gab es überhaupt keine Erklärung.
Träume, die sie hatte, immer wieder, von dunklen Kellern, aufgeschlitzten Katzen, von Kindern, die brannten, diese Träume waren genau das: Träume.
Und nichts anderes.
»Sweet Sixteen«
Das Alltagssystem
Schnell wurde deutlich, dass Traute den Anforderungen der Mutter nicht gewachsen war, so sehr sie sich auch mühte. Sie hatte zu viel Gefühl, um ihre Umwelt zu ertragen und die geforderte Leistung zu erbringen. So entstanden drei neue Personen, um mit der Mutter fertig zu werden: Magda, Miranda und Martha. Sie nahmen sich gegenseitig wahr, ergänzten sich, empfanden sich als zusammengehörig und bewältigten den Alltag miteinander. Folgerichtig nannten sie sich »das Alltagssystem«.
Sarah, die immer bemüht war, die Zahl der Personen so gering wie möglich zu halten, hatte keine andere Lösung gefunden.
Magda kochte, organisierte den Haushalt, war für Ordnung, Sauberkeit, Perfektion zuständig. Magda kochte nicht gern. Aber gut. Was sie gern machte, stand nicht zur Diskussion. Es würde noch fünfzehn Jahre dauern, bis sie das erste Mal darüber nachdachte. Magda hatte den Auftrag, ihre Aufgaben zu erfüllen. Das tat sie. Wenn ihr jemand in die Quere kam, wurde sie energisch. Gefühle hatte sie nicht.
Miranda war für Heiterkeit zuständig. Sie war vergnügt, etwas oberflächlich, nahm nichts schwer. Sie munterte die Mutter auf, brachte sie zum Lachen. Und die Herren, die zu Besuch kamen, ebenfalls.
Martha entstand fürs Gemüt. Sie war lieb, sanft, versuchte immer zu vermitteln, gab allen anderen Menschen recht, nur sich selbst nicht. Damit war das System wieder perfekt auf die Erfordernisse der Außenwelt eingestellt.
Diese drei Personen waren nicht plötzlich durch Traumata entstanden, sondern hatten sich durch die Anforderungen der Umwelt allmählich entwickelt.
Sie blieben nicht allein.
Schon bald wussten sie, dass Traute die Hauptperson war, um die sich alles drehte, die aber nichts ertrug. Diejenige, die sie schützen mussten. Sie verachteten sie und neideten ihr den Status als Hauptperson. »Wir?«, so Miranda empört im Rückblick, »wir sind ja nur Hilfspersonen. Es ist so. Aber natürlich ist es auch eine Diskriminierung.«
Wenn sie miteinander über Traute sprachen, nannten sie sie nur »die Frau«, sie konnten sich nicht dazu durchringen, ihr einen richtigen Namen zu geben.
Das Leben in den nächsten zehn Jahren ist kompliziert zu rekonstruieren. Viele Dokumente, Zeugnisse, Unterlagen, Krankenhausberichte, Röntgenaufnahmen sind erhalten und belegen,
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