Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Termin, nannte einen Ort. Sie kletterten aus dem Fenster, und Rita hatte eine Reihe Freier zu bedienen. Kunden, die nach etwas ganz Exotischem verlangten: einer Diakonisse. Fast so gut wie eine Nonne.
Von Diakonissen wusste Rita nichts. Sie machte ihren Job. Sie machte ihn gut, war stolz darauf. Schmerzhaft genug war das damals gewesen, als man sie angelernt hatte. Ihr beigebracht hatte, wann sie stöhnen, wann kreischen, wie kichern, wohin greifen sollte.
Merkwürdig: Wo immer sie waren, irgendjemand blieb stets auf ihrer Spur. Immer diese Anrufe, immer diese Dienste. Sogar als sie auf Trebe waren, mussten sie die verrichten.
Von Zeit zu Zeit holte man sie ab, und sie verschwanden für eine Weile. Ein paar Tage, eine Woche, zwei. Sie selbst merkten das nicht. Sie waren es gewohnt, auf diese Weise durchs Leben zu springen. Die anderen Menschen kriegten etwas mit, Rosemarie zum Beispiel, mit der sie auf Trebe waren. Die merkte, dass Angela manchmal abgeholt wurde von feinen Pinkeln. Nach einer Weile kam sie wieder zurück. Beim ersten Mal dachte Rosemarie noch: Sicher hat sie ordentlich Kohle mitgebracht.
Nein.
Mehrere Selbstmordversuche brachten Angela Bahr in die Psychiatrie. Dort entwickelten sie eine Person für die Aufgabe, schleunigst wieder herauszukommen:
Luna.
Luna erfüllte ihre Aufgabe perfekt. In kürzester Zeit lernte sie die Vorstellungen der Ärzte und des Pflegepersonals von psychischer Gesundheit kennen. So kannte sie die Erwartungen der Psychiater und konnte sie erfüllen. Sie hatte alle richtigen Antworten parat:
Der Grund des Zusammenbruches? Pubertät und der frühe Verlust des Vaters.
Zukunftspläne? Die Ausbildung beenden, einen schönen Beruf ergreifen, heiraten, zwei Kinder bekommen – am liebsten einen Jungen und ein Mädchen.
Die Stimmungslage? Allmählich wiederkehrende Lebensfreude. Ihre Zeichnungen? Ausgewogen hell und dunkel, Bäume mit Blättern, Menschen mit Armen und Beinen, bekleidet. Auch mal ein nackter Mensch dabei, mit Geschlechtsteilen, eher dezent, den Penis nicht zu groß und nicht zu klein zeichnen. Lachende Menschen, auch mal einer mit Tränen, aber eher selten.
Die Gefühle zur Mutter? Schuldgefühle, weil sie ihr so viele Sorgen macht. Etwas Trotz, aber wirklich nur etwas!
Die Gefühle den Ärzten gegenüber? Dankbarkeit.
Geheilt.
Entlassen.
Wieder zu Hause, schnappt sie ein Gespräch zwischen Mutter und Bruder auf. Man will sie entmündigen lassen, bevor sie achtzehn ist. Panik. Niemand ist da, der ihr sagt: Das kann gar nicht gelingen. Schau dir deine Zeugnisse an. Deine Ausbildung. Du hast doch alles geschafft. Trotzdem.
Auf Rat der Mutter geht sie noch mal in eine psychosomatische Klinik. Eine bestimmte Klinik, eine, die Angelas Mutter ausgesucht hat. Ein bestimmter Therapeut ist für sie zuständig. Ein merkwürdiger Mann, vor dem sie Angst hat. An diese sechsWochen Therapie behält Angela Bahr fast keine Erinnerung zurück. In ihre Entlassungspapiere schreibt der Therapeut, sie sei für eine Therapie noch nicht zugänglich gewesen und solle in einem halben Jahr wiederkommen.
Sie kommt nie wieder.
Aber er.
Nach der Entlassung lebt Angela Bahr dürftig von Sozialhilfe. Sie hat starke Schmerzen und eine Gehbehinderung, die sich nicht erklären lässt.
Die Sache mit dem Arm, der zur Flasche greift, tritt wieder auf. Sie will das nicht. Da geht sie zu den Anonymen Alkoholikern. Lernt einen Mann kennen, Wolfgang. Heiratet. Bekommt ein Kind.
Das Leben wird ruhiger. Sie hat es geschafft.
Eines Tages hat ihr Mann beruflich in der Stadt zu tun, in der Angela Bahr geboren ist, wo sie gelebt hat, bis sie vierzehn war. Sie begleitet ihn. Plant einen ganzen Tag für sich allein auf der Suche nach der Vergangenheit. Abends wollen sie sich wieder treffen. Traute hat nur wenige Erinnerungen an ihre Kindheit. Aber die meisten davon stammen nur aus Dokumenten und Fotoalben, das weiß sie genau. Vor dem vierzehnten Lebensjahr ist fast nichts Eigenes dabei. Vielleicht kommen die Erinnerungen zurück, denkt sie, wenn ich meine alte Schule angucke, das Haus, in dem wir gelebt haben, die Straße, den Wald hinter unserem Grundstück.
Traute fährt einige Stationen mit der Straßenbahn. Dann schlendert sie durch die Stadt. Sieht die Kirche, geht hinein. Da weiß sie plötzlich: Hier bin ich konfirmiert worden. Es funktioniert, denkt sie, ich frische meine Erinnerungen auf. Sie steht vor der Grundschule und weiß auch das auf einmal: Hier auf dem Schulhof habe ich
Weitere Kostenlose Bücher