Vater unser
der großen Teams. Du brauchst etwas Besonderes, Ju-Ju, etwas, was niemand außer dir hat. Und niemand hat solche Finger wie ich.» Andrew sah hinab auf seine vernarbten Hände, die ihn einst zum Star hätten machen sollen. An der Wurfhand war der Daumen derart kraftlos Richtung Handgelenk abgeknickt, dass er einen Baseball nicht einmal mehr umfassen konnte. Tiefe Narben zogen sich über seine Handflächen bis hin zu seinen Fingerspitzen. Dort hatten sie ihm vor vielen Jahren den Chip eingepflanzt. Inzwischen wahrscheinlich halb verrottet, war er doch immer noch in ihm. Irgendwo. Das spürte er. Er ließ den Kopf hängen und begann zu weinen.
KAPITEL 82
D AS MESSER steckte kurz unterhalb des Bauchnabels. Die Einstichstelle wies kein zerrissenes Gewebe auf, wie man es im Falle eines Kampfes vorfinden würde. Im betreffenden Bereich unterhalb des Nabels befinden sich außerdem keine lebenswichtigen Organe. Wenn der Dünndarm verletzt worden wäre, hätte dies lebensbedrohliche Folgen haben können, aber dies war ja, wie ich bereits sagte, nicht der Fall.» Dr. Frank Dahl, der Unfallchirurg des Jackson Memorial, der David Marquette operiert hatte, rutschte auf der Kante seines Stuhls hin und her und beugte sich derart tief über das Mikrophon, dass seine Nasenspitze es beinahe berührte. Offensichtlich bereitete ihm die Tatsache, dass er als Zeuge aussagen musste, mehr als nur Unbehagen – er war das reinste Nervenbündel. Er saß bereits seit einer Stunde und zwanzig Minuten im Zeugenstand, und das waren eine Stunde und neunzehn Minuten zu lang. Für alle Anwesenden. Dr. Dahl wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und räusperte sich. Ein markerschütterndes Rückkopplungsgeräusch hallte durch den Gerichtssaal. Richter Farley verdrehte die Augen.
« Und einmal angenommen, der Dünndarm wäre verletzt worden – was wäre dann passiert, Dr. Dahl?», fragte Rick.
« Dann hätte ich ihn operieren und nähen müssen. Natürlich hätte dabei das Risiko bestanden, dass Flüssigkeit aus dem Darm in die Bauchhöhle gelangt und eine Infektion hervorruft. Eine durchaus ernstzunehmende Folge. Aber noch einmal: In diesem Bereich gibt es ansonsten keine lebenswichtigen Organe.» Der Doktor sah hinüber zu den Geschworenen, und sein Blick fiel auf eine Frau in der ersten Reihe. Sie hieß Alice Wade und war eine pensionierte Bibliothekarin aus Iowa, die ihren Lebensabend in Leisure City verbrachte.
« Das ist auch der Grund, warum sich japanische Samurai, wenn sie Seppuku begingen – einen rituellen Selbstmord, der in der westlichen Welt als Harakiri bekannt ist –, das Messer nicht nur einfach in den Bauch stießen, sondern es auch quer durch ihre Eingeweide zogen», erklärte er und demonstrierte die Bewegung in der Luft.
« Zum Schluss rissen sie die Klinge scharf nach oben. Diese Methode rührte ziemlich sicher zum Tode, selbst wenn der betreffende Samurai keinen Helfer – den sogenannten Kaishaku-Nin – hatte, dessen Aufgabe es war, ihm zum Schluss den Kopf abzuschlagen», dozierte Dr. Dahl lächelnd. Alice Wade wurde grünlich-blass und starrte zu Boden.
« Einspruch!», sagte Levenson und stand auf.
« Hetzerisch und irrelevant.»
« Stattgegeben», sagte Farley.
« Reicht Ihnen das aus, Mr. Bellido? Ich glaube, nicht nur die Geschworenen, sondern wir alle haben verstanden, worauf Sie hinauswollen. Dr. Dahl hält es nicht für einen Selbstmordversuch. Sehen wir also zu, dass wir weiterkommen.» Er tippte ungeduldig auf seine Uhr.
« Vielen Dank, Dr. Dahl», sagte Rick und setzte sich.
« Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.»
« Mr. Levenson? Bitte sagen Sie mir, dass Sie ebenfalls mit diesem Zeugen fertig sind.»
« Ja, Euer Ehren. Keine weiteren Fragen.» Dr. Dahl rannte förmlich aus dem Gerichtssaal.
« Nun gut», sagte Farley seufzend.
« Staatsanwaltschaft, wer kommt als Nächstes?» Rick ließ sich Zeit, bevor er zum Richter aufsah. Wenn er eine jener bedeutungsschwangeren Pausen machte, durch die er die Spannung bis ins Unerträgliche zu steigern pflegte, hing mittlerweile der ganze Saal an seinen Lippen. Schließlich erhob er sich und strich seinen teuren Anzug glatt.
« Die Staatsanwaltschaft schließt die Beweisaufnahme ab, Euer Ehren.» Aufgeregtes Murmeln erhob sich im Saal. Zur Überraschung aller Journalisten, Rechtsexperten und Nachrichtenkommentatoren, die von einem vierzehnwöchigen Verhandlungsmarathon wie beim Prozess gegen Michael Jackson ausgegangen waren, hatte es nur fünf Tage gedauert, bis
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