Vater unser
die Staatsanwaltschaft alle zweiundzwanzig Zeugen aufgerufen hatte. Leonard Farley mochte die längste Prozessliste von Miami haben, doch wenn eine Verhandlung erst einmal begonnen hatte, machte er von Anfang an Druck. In diesem Fall hatte er den Geschworenen versprochen, dass der Prozess nur zwei Wochen ihrer Zeit in Anspruch nehmen würde. Und dieses Versprechen wollte er halten – um jeden Preis. Also begann die Verhandlung jeden Morgen um zehn, gleich nachdem Farley seine Prozessliste abgearbeitet hatte, und endete nicht selten erst nach sieben oder acht Uhr abends. Falls die Geschworenen Marquette für schuldig befanden, würde sechs Wochen später über das Strafmaß verhandelt werden, in einem gesonderten Prozess, in dem beide Seiten wiederum ihre Zeugen präsentieren konnten. Dann mussten die Geschworenen entscheiden, ob David Marquette den Rest seines Lebens in einer Hochsicherheitszelle verbrachte oder für seine Verbrechen hingerichtet wurde. Und auch dieser zweite Prozess, so hatte Farley ihnen versichert, würde nicht länger als eine Woche dauern. Obwohl Rick den Großteil der Verhandlung führte, durfte auch Julia einige Zeugen befragen – den Archiwerwalter des Coral Gables Police Department, die Techniker der Spurensicherung, die OP-Schwester aus dem Mount Sinai Medical Center, die David Marquettes Stimme auf dem Band der Notrufzentrale identifiziert hatte, und den Manager des Marriott, der bezeugte, dass Marquette für die Nacht des achten Oktober 2005 ein Zimmer in seinem Hotel gebucht hatte. Julia hatte den Geschworenen die Hotelrechnung und die Laborberichte als Beweismittel vorgelegt. Und sie hatte die auf Plakatkarton gezogenen Fotos des Tatorts und der Opfer benutzt, um zu demonstrieren, wo die Leichen gefunden worden waren. Doch bei alldem hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, als würde sie einer Fremden zusehen, die sich als Julia Valenciano ausgab und in ihrem Namen handelte. Es schien, als würde sie sich selbst verlieren. Jeden Tag bröckelte ein Stückchen ihrer Persönlichkeit ab und verschwand, und sie fürchtete, dass am Ende nichts mehr von ihr übrig bleiben würde.
« Nun gut, Mr. Levenson», sagte Farley, nachdem er die Geschworenen ins Wochenende entlassen hatte.
« Ab Montag sind Sie dran. Wie sieht Ihr Zeitplan aus?»
« Ich habe mehrere Zeugen, Euer Ehren, und ich weiß noch nicht, in welcher Reihenfolge ich sie aufrufen werde.»
« Wird Ihr Mandant aussagen?», fragte Farley und warf einen skeptischen Blick auf den Angeklagten.
« Auch das weiß ich noch nicht», erwiderte Levenson ruhig. Solange Rick Bellido und die Presse im Gerichtssaal waren, würde er sich nicht in die Karten gucken lassen. Doch Farley war nicht der Einzige, der bezweifelte, dass Marquette aussagen würde. Während der ganzen ersten Verhandlungswoche hatte Marquette teilnahmslos ins Leere gestarrt, mit dem Fuß gewippt und die Zunge abwechselnd gegen beide Wangen gestoßen. Julia fragte sich, wie sie sich verhalten würde, wenn sie unschuldig des Mordes angeklagt wäre. Oder wenn sie schuldig wäre, aber unschuldig wirken wollte. Und dann gab es noch die dritte Möglichkeit: wie sie sich verhalten würde, wenn sie schizophren wäre ...
« Ich möchte diesen Fall nächsten Freitag zum Abschluss bringen», sagte Farley.
« Liegt das im Bereich des Möglichen, meine Herren?» Mit einem Blick auf Julia fügte er hinzu:
« Meine Dame?»
« Ich weiß, dass Sie einen vollen Terminkalender haben, Euer Ehren, aber –», begann Levenson.
« Nein, ich mache eine Kreuzfahrt. Sie beginnt am Einunddreißigsten. Wir hätten also nach dem nächsten Freitag noch eine Woche Luft.» Er erhob sich vom Richtertisch und ging zur Tür, die Jefferson für ihn offen hielt.
« Aber ich bin sicher, dass wir die nicht brauchen», sagte er ruppig und stapfte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. I CH MÖCHTE, dass du Christian Barakat im Zeugenstand befragst», sagte Rick leise zu Julia, während sich der Gerichtssaal langsam leerte.
« Du hast deine Sache bei der Anhörung nämlich sehr gut gemacht. Selbst Farley war beeindruckt. Und dein Eröffnungsplädoyer war erstklassig.» Julia starrte auf ihre Aktentasche.
« Ich bin überhaupt sehr zufrieden mit dir», fuhr Rick zögernd fort. Als sie immer noch nichts erwiderte, sagte er:
« Hör mal, Julia, ich weiß, dass zwischen uns in letzter Zeit alles etwas schwierig war. Zumindest für mich.» Julia fragte sich, was er damit meinte. Rick hatte mit Sicherheit keine Ahnung,
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