Vater unser
zynisch, aber Julia vermutete, er zog gerade den Schluss, dass sie ihre weiblichen Waffen eingesetzt hatte, um auf der Karriereleiter voranzukommen. Trotz und verletzter Stolz vertrieben den letzten Rest von Übelkeit. Julia stand auf, nahm das feuchte Klopapier aus dem Nacken und spülte es die Toilette herunter. Dann schloss sie das Fenster.
« Warum glaubt eigentlich jeder, dass es der Vater war?», fragte sie, um das Thema zu wechseln.
« Warum sind alle so überzeugt, dass David Marquette es getan hat?»
« Naja, zum einen traf die Polizei knapp sechs Minuten nach dem Notruf am Tatort ein und verschaffte sich zwanzig Minuten später Zutritt. Außerdem war die Alarmanlage aktiviert, es gab keine Hinweise auf einen Einbruch, und niemand sonst wurde im Haus gefunden.»
« Warum haben sie so lange gewartet, bis sie reingegangen sind?»
« Gute Frage. Eine, die sich die Jungs inzwischen vermutlich ebenfalls stellen. Sie dachten, es sei ein dummer Kinderstreich, in dem Haus war noch nie etwas passiert, und auch draußen ließ nichts auf einen Einbruch schließen. Im Nachhinein ist man immer klüger, Frau Staatsanwältin.»
« Oh», sagte Julia und schwieg. Sie wollte nicht schon wieder etwas Falsches sagen, und so behielt sie für sich, dass sie an JonBenèt Ramsey denken musste, das sechsjährige Mädchen aus Boulder, Colorado, das am ersten Weihnachtstag aus dem Bett geholt und im Keller seines Elternhauses stranguliert worden war. Ihr Bruder und ihre Eltern schliefen in ihren Zimmern am Ende des Flurs. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten sofort die Eltern im Visier, doch das Verbrechen wurde nie aufgeklärt. Später wurden die ermittelnden Beamten wegen ihres Tunnelblicks kritisiert. Weil sie sich nur auf die Eltern konzentrierten, hatten sie andere Hinweise möglicherweise ignoriert.
« Hätte der Täter irgendwie ins Haus kommen können, ohne den Alarm auszulösen? Vielleicht durch ein offenes Fenster? Wenn die Fliegengitter nicht festgeschraubt sind ...»
« Jetzt spielen Sie die Verteidigerin.»
« Man sollte alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.»
« Es gab keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. David Marquette hätte in seinem Hotelzimmer im Bett liegen müssen, fast vierhundert Kilometer von Miami entfernt, weil er am nächsten Tag auf dem Ärztekongress einen Vortrag halten sollte. Aber er war hier. Er ist der einzige Überlebende des Blutbads. Er hatte zwar ein Messer in den Eingeweiden, aber auch, wenn es schlimm klingt, im Vergleich zum Rest der Familie hatte er ansonsten auffällig wenige Verletzungen. Wenn wir tief genug graben, finden wir mit Sicherheit noch ein paar andere interessante Dinge. Das ist immer so.»
« Zum Beispiel eine Geliebte?»
« Zum Beispiel. Oder einen Ehestreit. Geldprobleme.»
« Versicherungspolicen ...»
« Jetzt argumentieren Sie wieder auf der richtigen Seite des Gesetzes, Frau Staatsanwältin.»
« Bitte nennen Sie mich Julia. Halten Sie es für möglich, dass Marquette Selbstmord begehen wollte?»
« Könnte sein. Mord und versuchter Selbstmord. Wäre nicht das erste Mal. Vielleicht hatte er gar nicht vor, sich umzubringen, sondern fasste den Entschluss erst, als er merkte, dass seine Tochter die Polizei gerufen hatte und ihm die Zeit ausging, weil sein Alibi Hunderte von Kilometern weit weg war.»
« Wo hat man ihn gefunden?», fragte Julia. Latarrino sah sich im Bad um.
« Hier drin.» Sie folgte dem Blick des Detectives in die Ecke neben der Duschkabine.
« Die Spurenermittlung hat sauber gemacht. Die Dusche war noch nass. Man hat ihn bewusstlos und nackt hier gefunden. Nur ein Handtuch lag neben ihm auf dem Boden.»
« Was für Verletzungen hatte er? Er musste operiert werden, oder?»
« Eine kollabierte Lunge und eine Stichwunde im Unterleib. Er hat viel Blut verloren. Die Verletzung hätte tödlich sein können, war es aber nicht. Allerdings hatte er gestern Nacht eine Lungenembolie, deshalb haben sie ihn operiert.»
« Das klingt nicht gut.»
« Er wird es überleben.»
« Und Sie gehen davon aus, dass er sich die Wunde selbst beigebracht hat?»
« Garantiert. Die Verletzungen sind viel zu ordentlich für das, was hier im Haus passiert ist.» Julia runzelte die Stirn.
« Eins verstehe ich nicht: Warum? Wenn der Selbstmordversuch spontan war, wie Sie sagen, warum in aller Welt hat er seiner Familie das angetan? Seiner Frau? Seinen Kindern? Einem kleinen Baby? Ich meine, der Mann war Arzt ...»
« Lassen Sie sich nicht von einem Doktortitel blenden, Frau
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