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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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Warte, bis du die Videoaufzeichnung siehst. Na schön, fahren wir zurück ins Büro.» Er sah auf die Uhr.
« Eigentlich wollte ich bei Nielson vorbeifahren, aber eben habe ich einen Anruf bekommen, dass ich heute Nachmittag einen Zwischenbericht wegen eines Klagabweisungsantrags bei Richter Gilbert einreichen muss.» Es war schon Viertel vor drei. Siedend heiß fiel Julia der Fall ein, den sie nicht hätte vergessen dürfen. Der Fall, den Farley auf morgen früh gelegt hatte. Der Fall, dessen Zeugen Mario hätte kontaktieren sollen, was sie ihm aufzutragen vergessen hatte. Mario, der die Vorladung von Zeugen und Opfern koordinierte, machte jeden Tag um Punkt vier Uhr Feierabend, auf den Fuß gefolgt von ihrer Sekretärin Thelma, die sich ohnehin weigerte, für sie herumzutelefonieren. Verdammt. Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt. Als sie ihr Büro verlassen hatte, war sie so in Eile gewesen – so unter Schock. Jetzt dachte sie an all die Arbeit, die sie zu erledigen hatte – zwischen jetzt und morgen früh um neun.
« Ich muss zurück, Rick. Ich muss mich noch auf die Verhandlung vorbereiten», erklärte sie. In den Tiefen ihrer Handtasche fand sie zwei Paracetamol, die sie ohne Wasser hinunterschluckte, bevor ihr die Stressmigräne in alle Glieder fuhr.
« Bearbeitest du nicht mit Gilbert den Fall der Verfolgungsjagd in Overtown letztes Jahr, Rick?», schaltete sich Latarrino ein.
« Ja», sagte Rick.
« Bist du auf dem Laufenden?»
« Gus Perikles war an der Sache dran, als er in Rente ging. Ich habe mich schon gefragt, an wen sie den Fall weitergeben, nachdem seine Stelle nicht wieder besetzt wurde. Blöde Sache. Aber die Jagd war sauber.»
« Gus der Grieche», Rick lachte.
« Ist wieder in die alte Heimat zurückgekehrt, wie ich hörte. Ziegen melken und Wein anbauen oder so was Verrücktes. Tim Sweeney haben sie an den Fall Estevez gesetzt.» Lat schüttelte den Kopf, doch er lächelte.
« Dort sind Cohibas legal, glaube ich. Gus wird sich freuen. Tim ist ein guter Mann, aber denk ja nicht, dass er sonntags arbeitet, wenn die Dolphins spielen. Er wohnt im gleichen Viertel in Fort Lauderdale wie der Coach.» Julia versuchte einen Moment lang, an dem Gespräch, bei dem sie nicht mitreden konnte, Interesse zu heucheln. Doch sie fühlte sich wie die Neue an der Schule nach den Sommerferien, wenn die anderen sich so viel zu erzählen hatten. Sie trat einen Schritt zurück und ließ den Blick über die Familienfotos wandern, die an den blassgelben Wänden hingen. Ein altes Schwarzweißfoto zeigte jemandes Großeltern. Auf einem anderen drückte ein kleiner Junge zwei Hände voller Spielzeugautos an seine Brust. Danny, wie sie inzwischen wusste. Fotos waren eine seltsame Sache, dachte sie, während sie die lächelnden Gesichter betrachtete – Gesichter, die ihr mit jeder Minute vertrauter wurden. Schnappschüsse hielten nur einen kleinen Augenblick fest, doch für die meisten Menschen steckte darin viel mehr. Ein aufregender Abend. Ein ganzer Urlaub. Die ersten Wochen mit dem Neugeborenen. Eine Epoche am College. Die Teenagerzeit. Und die Ironie dabei war, dass auf den meisten Fotos das Grinsen gestellt war, gehorsam aufgelegt, bis die Blende zugeschnappt war oder jeder Haltung angenommen hatte. Emma Louise beim Halloweenfest als geflügelte Fee. Die hochschwangere Jennifer mit Nikolausmütze. David mit Danny und Emma in Disney World, dahinter Feuerwerk über einem funkelnden Cinderella-Schloss – der perfekte Hintergrund für den perfekten Urlaub. Das Lächeln wirkte so echt, aber das konnte es nicht sein, in diesem Fall, oder doch? Wenn all die erfahrenen Polizisten recht hatten, wie konnte solch ein Monster – ein Mann, der später der Reihe nach seine ganze Familie auslöschte –, wie konnte er bei ihnen stehen und lächeln und es ehrlich meinen? Sie wusste, dass so etwas nicht möglich war. David Alain Marquette, Northwestern University, Feinberg School of Medicine, Jahrgang 1994. Er war attraktiv, mit markanten Wangenknochen, lockigem blonden Haar und einem sympathischen Lächeln. Seine Patienten fassten sicher leicht Vertrauen zu seinem weichen, runden, frischgeschrubbten Gesicht. Vor allem die Frauen, musste Julia aus irgendeinem Grund denken. Außerdem hatte er die hellsten grauen Augen, die sie je gesehen hatte. Augen, die das glänzende Fotopapier zu durchdringen schienen, als würde er sie in diesem Moment ansehen. Sein jungenhaftes gutes Aussehen war so vertrauenerweckend, dass ihr ein Schauer

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