Vater unser
über den Rücken lief. Das Böse, dachte sie, sollte hässlich sein.
« Wenn du jemanden anlügen willst, musst du zuerst sein Vertrauen gewinnen», hatte Onkel Jimmy einmal gesagt.
« Das zeichnet einen wirklich guten Lügner aus.»
« Also gut», sagte Rick und ging zurück zur Treppe.
« Wir müssen los. Bist du so weit, Julia?» Sie nickte. Doch bevor sie die Treppe erreichten, knisterte Latarrinos Funkgerät.
« Lat? Bist du da? Bitte melden.» Steve Brills typischer New Yorker Akzent schallte durch den Flur.
« Was gibt’s denn, Steve?», fragte Lat.
« Bist du noch im ersten Stock?»
« Ja. Schau einfach persönlich nach. Bisschen Treppensteigen würde deinem Bierbauch nicht schaden.»
« Leck mich am Arsch, du Anabolika fressender Mistkerl. Oh, Scheiße – sind Bellido und die Biene von der Staatsanwaltschaft noch bei dir?»
« Die stehen direkt neben mir. Möchtest du schnell hallo sagen, oder soll ich erst jemanden runterschicken, der dich aus dem Fettnapf zieht?»
« Am besten bewegst du deinen Hintern hier runter», entgegnete Brill hörbar verärgert.
« Was gibt’s denn?»
« Der Mistkerl ist gerade aufgewacht.»
KAPITEL 14
JULIA SASS an ihrem Schreibtisch, seufzte tief und starrte den Telefonhörer an. Die Frauenstimme schrie immer noch.
« Erzählen Sie mir nich, was ich machen muss! Ich muss gar nichts. Und jetzt sage ich Ihnen mal was, Lady: Seit Letray mich aufgeschlitzt hat, hat sich keiner ‘nen Dreck um mich geschert. Und jetzt kommen Sie und reden und wollen meine Freundin sein?»
« Was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Pamela?», fragte Julia zähneknirschend, während sie versuchte, ruhig und verständnisvoll zu klingen.
« Ich habe dafür gesorgt, dass Letray die letzten vier Monate hinter Gittern gesessen hat. Aber damit er auch dortbleibt, müssen Sie morgen vor Gericht erscheinen.» Eine Weile herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen. Dann sprach Pamela Johnson zögerlich weiter.
« Was, wenn ich gar nicht will, dass er im Knast sitzenbleibt?» Julia schloss die Augen.
« Pamela, er ist mit einer Rasierklinge auf Sie losgegangen.»
« Ich hab Kinder. Eins is grade erst geboren.»
« Wir können Ihnen helfen, eine Unterkunft zu finden.»
« Einen Scheiß könnt ihr!» Sie begann wieder zu schreien.
« Das is genau, was ich meine – keiner kümmert sich einen Dreck! Ich brauch was zu essen, Lady. Meine Kinder brauchen was zwischen die Zähne. Und sie brauchen ihren Daddy, das isses, was sie brauchen!»
« Ich weiß, wie schwierig diese Situation für Sie ist, Pamela. Aber überlegen Sie mal: Was hätten Ihre Kinder von einem Vater, der im Gefängnis sitzt, weil er Mommy umgebracht hat? Wer würde Ihre Kinder dann ernähren?»
« Das is doch scheiße!», schrie Pamela. Okay, vielleicht war sie ein bisschen zu weit gegangen.
« Ich kann dafür sorgen, dass jemand –», begann sie, aber es war zu spät. In der Leitung war nur der Amtston zu hören. Julia legte auf und rieb sich die Augen. Dann drehte sie ihren Stuhl zum Fenster und sah durch die regennassen Scheiben über die schmutzigen Luftschächte hinweg zum Bezirksgefängnis und dem Gerichtsgebäude gegenüber. Die Straße vor dem Graham Building war wie leer gefegt. Auf dem Parkplatz standen Pfützen, die zu kleinen Seen anwuchsen, seit der Himmel vor ein paar Stunden die Schleusen geöffnet hatte. Wieder einmal war sie eine der Letzten, die heute Abend das Gebäude verließen. Nachdem Mario ihr sein Mitgefühl für ihre missliche Lage bekundet hatte, hatte er das dicke Telefonbuch der örtlichen Polizeidienststellen herausgesucht und es ihr zusammen mit Pamela Johnsons letzter bekannter Telefonnummer auf den Tisch gelegt, bevor er um zehn nach vier in seinen Bus nach Hialeah stieg. Thelma und die anderen Verwaltungskräfte waren kurze Zeit später ebenfalls verschwunden, eine wilde Horde, die zu den Fahrstühlen galoppierte, doch um 17 Uhr 04 war alles wieder still. Nachdem sie die Termine für morgen durchgegangen war, hatte Julia allen möglichen Zeugen und Polizeibeamten hinterhertelefoniert, in der Hoffnung, dass sie nach der Auswahl der Geschworenen wenigstens einen Kandidaten in den Zeugenstand rufen könnte. Um acht hatte sie endlich Pamela Johnson, Letray Powers’ Freundin, erreicht. Und nun, fünf Minuten später, stand sie mit leeren Händen da. Sie konnte Richter Farleys wutentbranntes faltiges Gesicht vor sich sehen, wie er im leeren Gerichtssaal drohend mit dem Finger auf sie zeigte und versprach, ihr das
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