Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
Vom Netzwerk:
Leben zur Hölle zu machen. Wieder kramte sie nach den Kopfschmerztabletten, dann griff sie nach dem Ordner, in dem das Fallrecht zum Thema
« Äußerung unter Stress» versammelt war. Ihre Nachtlektüre würde alles andere als aufregend sein. Das Bezirksgefängnis starrte sie mit wandernden Suchscheinwerfern durch den trübseligen Nieselregen an wie ein unheimlicher Nachtclub, massig und dunkel und nur einen Steinwurf von ihrem Fenster entfernt. Sogar um diese Zeit kauerten unter dem Betonvorbau noch ein paar unerwünschte schräge Vögel, rauchten Zigaretten oder tranken heimlich aus braunen Papiertüten, während sie darauf warteten, dass ein Freund oder Verwandter auf Kaution rausgelassen wurde. Hinter dem acht Meter hohen Stacheldrahtzaun und den mit schweren Gittern verwehrten Fenstern saßen einige der gewalttätigsten Männer im ganzen Staat; die Frauen saßen ein paar Ecken weiter ein, im Women’s Detention Center, oder im TGK, dem Turner Guilford Knight Center, im Westen der Stadt. Mörder, Räuber, Pädophile, Vergewaltiger – zusammengepfercht nur ein paar Meter weg von ihrer Tür, wo sie auf ihren Prozess oder die nächste Anhörung warteten, oder auf die Nachricht, an welchem Ort sie die nächsten paar Jahrzehnte verbringen würden. Nie hatte ihr Beruf ihr so zugesetzt wie heute. Nie hatte ein Fall, ein Täter oder Opfer an den schrecklichen, schmerzhaften Erinnerungen gerührt, die sie seit so langer Zeit zu verdrängen versuchte. Erinnerungen, aus denen Albträume gemacht wurden. Erinnerungen, die selbst an einem strahlenden Sonnentag bodenlose Panikattacken auslösen konnten. Sie legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Das Leben war eine komische Sache. Glückliche Kindheitserinnerungen schienen immer so wahllos, so beliebig, wie Schnappschüsse in einem Fotoalbum. Keiner konnte sagen, warum man sich an manche Dinge erinnerte und an andere nicht. Wie sie auf dem Klettergerüst in der Chestnut Street Wassermelone aß und die Kerne in den Sand spuckte. Wie ihre Mutter ihr die Haare schnitt, am Küchentisch mit der Resopalplatte, die mit winzigen Glitzerpunkten übersät war. Wie sie an einem kühlen Sommerabend mit den Nachbarskindern Verstecken spielte und in Mrs. Rummos Büschen die Glühwürmchen beobachtete. Schöne Kindheitserinnerungen waren wie ein impressionistischer Bilderstrom – die Gesichter darin waren immer ein bisschen verwischt, oder sahen seltsam gealtert aus, wenn man mit den Leuten heute noch zu tun hatte. Doch die schlimmen Erinnerungen waren wie ein gestochen scharfer Film im Kopf, jede Sekunde in Echtzeit festgehalten, kristallklar in jedem Detail, noch Jahrzehnte später. Und selbst die harmlosesten Momente oder Wortwechsel, die einem schrecklichen Ereignis vorausgegangen oder ihm gefolgt waren – Augenblicke, an die man sich nie erinnert hätte –, wurden plötzlich ein Teil dieses Film noir, wie ein unheilvolles Vorspiel oder ein trauriger Nachtrag. Wann kommst du morgen früh heim?» Julia stellte ihre flauschige lila Tasche mit dem Schlafanzug und der Zahnbürste auf die Küchentheke.
Wann muss ich denn da sein?»
Hast du Hausaufgaben für Montag auf?»
Nur den Sozialkunde-Aufsatz. Aber der ist ganz leicht.»
Dann sei um zehn da», sagte ihre Mutter und rollte die Frauenzeitschrift zusammen, die sie in der Hand hielt. Sie hatte sich gerade die Nägel lackiert, in zartem Rosa. Julia fand die Farbe zu hell, zu langweilig. »Aber morgen ist Sonntag, Mom!»
Und du musst noch deinen Aufsatz schreiben. Sag Carly, dass ihr nicht mehr so lange fernsehen sollt. Du brauchst deinen Schlaf Außerdem ist es Mrs. Hogan bestimmt lieber, wenn du ins Bett gehst, wenn sie es tut.»
Aber, Mama – schon um zehn?»
Du hast gehört, was ich gesagt habe. Außerdem vermisse ich dich.» Ein Gespräch, an das sie sich nie erinnert hätte. Das einfach im verschwommenen Pool der guten Erinnerungen versunken wäre. Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Das einzig Gute, was sich über Letray Powers sagen ließ, war, dass er sie die letzten Stunden abgelenkt hatte – von Orten, an die sie nicht gehen, und Menschen, an die sie sich nicht erinnern durfte. Von den dunklen, dunklen Erinnerungen, die heute Nachmittag am Schauplatz des Grauens plötzlich und ohne Vorwarnung wieder auf sie eingeprasselt waren. Es war schwer zu glauben, dass sie noch vor zwölf Stunden so aufgeregt und glücklich gewesen war, an diesem Fall mitzuarbeiten, so stolz, dass man sie

Weitere Kostenlose Bücher