Vater unser
darum gebeten hatte. Sie hatte es kaum abwarten können, loszulegen, und jetzt ... Sie bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Julia seufzte tief und begann, ihre Aktentasche zusammenzupacken. Sie musste mit dem Grübeln aufhören. Es war Zeit, nach Hause zu fahren und mit dem armen Moose Gassi zu gehen – ihrem Beagle-Mischling, dem wahrscheinlich schon ein Malheur passiert war. Dann würde sie ein Fertiggericht in die Mikrowelle stellen und sich ein wohlverdientes Glas Rotwein einschenken. Sie hatte eine lange Nacht vor sich. So viel war sicher. Sie zog den zerknitterten Herald aus der Tasche und starrte die Schlagzeile an, die schon bald überholt sein würde. Von Rick hatte sie nichts mehr gehört, und sie war mehr als neugierig, was die Detectives im Krankenhaus herausfinden würden. Vielleicht hatte Marquette bereits gestanden. Vielleicht war er schon verhaftet worden. Vielleicht wurde der Fall ganz schnell gelöst, wie neunzig Prozent aller Verhaftungen. Vielleicht wäre das eine gute Sache ... Sie spielte mit dem Gedanken, Rick anzurufen, doch sie entschied sich dagegen. Das war sein Fall – wenn er sie anrufen wollte, hätte er es getan. Vielleicht waren ihm Zweifel gekommen, was sie anging. Sie fuhr sich durchs Haar und seufzte wieder. Weiß Gott, da wäre er nicht der Einzige. Als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, zuckte sie zusammen – nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Die Außenwelt ging recht in der Annahme, dass die meisten Regierungsbeamten spätestens um 16 Uhr 30 Feierabend machten, und normalerweise hatte das Telefon ab 18 Uhr endgültig zu klingeln aufgehört. Wahrscheinlich war es Dayanara, hungrig und auf der Suche nach Gesellschaft, die wissen wollte, wo ihre Witzseite geblieben war. Auch Day blieb oft länger im Büro, auch wenn Julia sie heute nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich ging sie ihr aus dem Weg, damit Julia sie nicht doch zur Mithilfe beim Powers-Fall überreden konnte. Wie die meisten Staatsanwälte verlor Day die Geduld bei Frauen, die sich von ihrem Mann schlagen ließen und dann vor Gericht nicht gegen ihn aussagen wollten. Es gab zu viele andere Gewaltopfer, die gehört werden wollten und die es sich nicht gefallen ließen, als Sparringspartner missbraucht zu werden, nur weil das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand. Julia versuchte, mit dem Locher die Falten aus der Zeitung zu bügeln.
« Staatsanwaltschaft Miami», meldete sie sich.
« Julia? Hey, du bist noch da?» Es war Rick, und er klang überrascht, dass sie abgehoben hatte.
« Ich wollte gerade gehen. Ich bereite mich auf meine Verhandlung morgen vor.»
« Die ohne Zeugen?»
« Die ohne Opfer. Ich hoffe, dass sie ihre Meinung noch ändert, aber es sieht nicht gut aus. Am Telefon hat sie mitten im Gespräch aufgelegt.» Julia stand auf und ging zum Fenster. Sie suchte den Parkplatz vor dem Graham Building nach seinem Wagen ab.
« Wo bist du?»
« Auf dem Weg nach Hause. Ich habe gerade mit John Latarrino gesprochen.»
« Gibt es was Neues? Hat er mit Marquette geredet?»
« Nein, die Jungs sind nicht einmal in das Krankenhaus hineingekommen. Mel Levenson hat sie gleich auf dem Parkplatz abgefangen.»
« Oje», erwiderte Julia. Mel Levenson war der Johnnie Cochran von Miami – ein Staranwalt, der berühmten Persönlichkeiten für horrende Geldsummen half, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Früher hatte er selbst als Staatsanwalt und später als Richter am Bezirksgericht gearbeitet, und er nutzte seinen Ruf und seine dreißig Jahre Berufserfahrung geschickt aus, um unerfahrene und erfahrene Staatsanwälte gleichermaßen einzuschüchtern. Wenn man Levenson vor Gericht gegenüberstand, war das wie ein Boxkampf gegen Mike Tyson – er mochte nicht mehr so fit sein wie früher, aber trotzdem hatte niemand Lust, mit ihm in den Ring zu steigen und ein blaues Auge zu kassieren, nur um die Probe aufs Exempel zu machen.
« Du sagst es: Oje», wiederholte Rick.
« Dann geht es Marquette also gut. Oder zumindest gut genug, dass er einen Anwalt anrufen konnte», sagte sie, während sie ihre Tasche packte.
« Marquettes Vater hat Levenson engagiert. Er ist selbst ein prominenter Arzt, oben in Chicago. Ich weiß nicht einmal, ob Marquette junior schon sprechen kann. Levenson hat alle Fragen abgeblockt. Ich habe eine Nachricht in seinem Büro hinterlassen, aber ich glaube kaum, dass er mich heute noch zurückruft.»
« Und was machen wir jetzt?», fragte Julia.
« Dass Lat keine Aussage von ihm bekommen hat,
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