Vater unser
Durch das Fenster schaute sie hinaus zum Bezirksgefängnis, das von den Suchscheinwerfern in gespenstisches graues Licht getaucht wurde. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
KAPITEL 15
J ULIA?
« Tante Nora?» Julia hatte den Blick auf ihr Handy gerichtet und verpasste beinahe die Ausfahrt auf den Dolphin Expressway. Sie hatte es nicht einmal klingeln hören.
« Das hoffe ich doch», antwortete ihre Tante kichernd.
« Du hast mich angerufen. Es sei denn, du hast dich verwählt.»
« Nein, nein, ich wollte dich anrufen», antwortete Juüa verlegen.
« Aber es hat gar nicht geklingelt. Woher wusstest du, dass ich es bin?»
« Ich habe Jimmy heute zum Elektrohandel geschickt. Er hat mir eins dieser Telefone besorgt, bei denen man sieht, wer anruft», verkündete sie stolz.
« Ich hatte die Nase voll von den Typen, die einem mit ihren Telefonumfragen das Abendessen verderben.»
« Wunderbar. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Tante Nora», sagte Julia und fragte sich, wie Onkel Jimmy es wohl geschafft hatte, ihre Tante endlich davon zu überzeugen, dass das zwanzig Jahre alte Micky-Maus-Telefon mit der dreißig Meter langen Strippe ausgedient hatte. Jetzt würde sie ihre Tante nur noch an das Handy gewöhnen müssen, dass sie ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
« Werd bloß nicht frech.»
« Wenn dich das Telefonmarketing nervt, kannst du offiziell Beschwerde einlegen. Es gibt eine Liste mit Telefonnummern, wo sie es nicht mehr versuchen dürfen.» Nora lachte.
« Ich lasse mich auf keine offiziellen Listen setzen, vielen Dank. Im Kleingedruckten gebe ich damit dem Weißen Haus wahrscheinlich die Erlaubnis, meine Gespräche mitzuhören. Ach, stimmt ja, unser Präsident braucht gar keine Erlaubnis dafür. Hat wohl mal wieder die Verfassung verlegt, in seinem großen weißen Haus.» Tante Nora hasste Präsident Bush, und mit ihr über Politik zu reden, war wie ein Ringkampf mit einem Stachelschwein. Selbst wenn man am Ende gewann, trug man Pikser und blaue Flecken davon – Julia versuchte es also gar nicht erst.
« Keine Chance, Tante Nora. Du verwickelst mich nicht in eine Diskussion.»
« Schön. Ich mag es, wenn sich keiner mit mir anlegt. Das heißt, dass ich recht habe.»
« Ich halte lieber den Mund.»
« Schlaues Mädchen.» Wieder lachte sie.
« Und was verschafft mir das Vergnügen deines Anrufs?» Julia hörte, wie im Hintergrund der Mixer betätigt wurde.
« Ich wollte nur hallo sagen. Und hören, wie es Onkel Jimmys Rücken geht.»
« Keine Sorge, dem geht’s gut. Aber er macht mich wahnsinnig. Er schaut mir den ganzen Tag über die Schulter, weil ihm so langweilig ist. Die Nachbarn macht er auch schon ganz verrückt, wenn sie friedlich am Pool in der Sonne liegen wollen. Mach dir also lieber Sorgen um mich. Willst du vorbeikommen? Ich weiß, dass du noch nicht gegessen hast, Kleines. Ich mach dir was warm.» Unwillkürlich musste Julia lächeln. Ihre Tante überraschte sie immer wieder. Sie hatte Instinkte wie eine Katze.
« Ach ja? Und woher willst du das wissen?»
« Ich höre es an deiner Stimme.»
« Tante Nora, du bist der einzige Mensch auf der Welt, der Kohldampf hören kann. Ich bin auf dem Heimweg, aber ich brauche noch eine halbe Stunde, und es ist jetzt schon halb neun.»
« Von wo kommst du?»
« Von der Arbeit.»
« Ach du liebe Zeit. Und ich hatte gehofft, du hast was Schönes gemacht. Ein Rendezvous oder so was. Warum musst du so lange arbeiten? Sperren sie die Verbrecher über Nacht nicht mehr ein?» Nora hasste Julias Beruf, und sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Als Julia Nora und Jimmy damals von ihren Studienplänen erzählte, hatten sie gehofft, sie wollte Notarin oder Steuerberaterin werden.
« Ich habe morgen früh eine Verhandlung.» Sie seufzte.
« Und die Zeugin spielt nicht mit. Es ist ein Trauerspiel.» Über die anderen unerfreulichen Ereignisse des Tages schwieg sie lieber. Eigentlich hatte sie ihre Tante nur angerufen, um ihre vertraute, dunkle Stimme zu hören. Worüber sie sprachen, spielte keine Rolle.
« Und ...?», fragte Tante Nora und stellte den Mixer ab.
« Und was?»
« Und was hast du noch auf dem Herzen?» Wieder ihre erstaunlichen Instinkte. Julia schwieg einen Moment, dann sagte sie:
« Nichts. Ehrlich.»
« Du bist eine schlechte Lügnerin, Kleines. Und ich weiß, dass du Hunger hast. Jetzt hör mal gut zu. Ich habe deinen kleinen Hund hier, und ich behalte ihn als Geisel, bis du herkommst und was Warmes zu dir nimmst. Du
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