Vater unser
und ein Geständnis am Spiegel klebte. Und darüber hinaus rechnete er wohl mit seiner Kündigung. Doch leider gab es kein Schuldeingeständnis. Während Lat den Raum inspizierte, wandelte sich seine Anspannung in Enttäuschung. Das Bett war unberührt. Im Kleiderschrank hingen zwei Anzüge und einige Freizeithosen, neben dem Waschbecken im Badezimmer standen Rasierzeug und andere Toilettenartikel. Außer einem Notizblock und einem Laptop lagen Broschüren und Faltblätter von Herstellern medizinischer Geräte, Pharmaunternehmen und einer Webdesign-Firma auf dem Schreibtisch. Die Unterlagen stammten offensichtlich von der Messe, die im Rahmen des Ärztekongresses stattgefunden hatte. Das war alles. Keine Drogen. Keine leeren Bier-oder Schnapsflaschen. Kein Abschiedsbrief. Kein Hinweis auf eine Geliebte, einen Geliebten oder eine Prostituierte. Lat wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, aber gerade weil Marquette so schnell mit einem Anwalt zur Hand gewesen war, hatte er gehofft, irgendetwas Spektakuläres vorzufinden. In den folgenden Stunden befragten Lat und Brill das Hotelpersonal, das am Wochenende Dienst gehabt hatte, doch niemand konnte Marquette identifizieren, geschweige denn sich daran erinnern, wann er am Samstagabend das Hotel verlassen hatte. Der Ärztekongress, auf dem er am Sonntag einen Vortrag hätte halten sollen, war am Nachmittag zu Ende gegangen, und die 500 Teilnehmer waren längst abgereist und wieder über das ganze Land verstreut. Das hieß, dass sie jeden Einzelnen aufspüren und befragen mussten, zumindest telefonisch. Dazu kam die Überprüfung von Marquettes Telefonrechnungen und Geschäftsunterlagen und die Auswertung der Laborergebnisse. Außerdem mussten seine Familienmitglieder, Freunde und Kollegen ausfindig gemacht und befragt werden. Der schwierigste Teil einer Mordermittlung bestand normalerweise darin, den Täter zu finden. Man besah sich Tatort und Leiche und begann, nach Hinweisen zu suchen. Die Überlegung, aus welchem Grund das Opfer getötet worden war, führte normalerweise zu einem Verdächtigen. Wurde das Opfer ausgeraubt? Vergewaltigt? Könnte es sich um eine Gang-Angelegenheit handeln? Hat es Eheprobleme gegeben? Doch dieser Fall lag anders. Hier gab es von Anfang an einen Verdächtigen, aber kein Motiv. Die Staatsanwaltschaft war zwar juristisch nicht verpflichtet, ein Motiv zu nennen, aber wie Julia Valenciano ganz richtig angemerkt hatte, wollten die Geschworenen bestimmt gern eine Antwort auf die Frage nach dem Warum hören, bevor sie den lächelnden Vater von dem Ferienfoto zum Tode verurteilten.
« Tja, das war wohl nichts», sagte Brill, als sie drei Stunden später mit Marquettes Laptop und einem Beutel voller Überwachungsvideos das Hotel verließen.
« Was hältst du davon?», fragte Latarrino.
« Ich glaube, wir haben ein Problem.» Lat seufzte.
« Das wird eine Scheißarbeit, seine letzten Stunden hier zu rekonstruieren.»
« Vielleicht ist er einfach mitten in der Nacht nach Hause gefahren, weil er seine Frau vermisst hat, und dann ist irgendwas schiefgelaufen», sagte Brill achselzuckend.
« Jetzt hör aber auf!», sagte Lat und schüttelte mit einem trockenen Lachen den Kopf
« Keiner vermisst seine Ehefrau. Zumindest nicht, wenn er schon länger als ein Jahr mit ihr verheiratet ist. Aber vielleicht hatte Marquette den Verdacht, dass seine Frau ihn nicht besonders vermissen würde. Wenn der Spermafleck auf Jennifers Nachthemd von jemand anders ist, hatte sie offenbar einen Geliebten. Könnte sein, dass Marquette nach Hause gefahren ist, um sie auf frischer Tat zu ertappen.»
« Das würde die ganze Sache verkomplizieren. Allerdings gäbe es dann wenigstens ein Motiv, und das können wir gut gebrauchen, Boss.» Lat nickte.
« Womöglich wäre es sogar vorsätzlicher Mord.»
« Dann müssten wir nur noch den Bill Clinton finden, der sein kleines Mitbringsel hinterlassen hat.»
« Warten wir erst einmal die Laborergebnisse ab», wandte Lat ein. Sie überquerten den Parkplatz des Hotels. Die Luft war kühl, aber es hatte aufgehört zu regnen. Der Himmel wurde bereits grau, und die ersten Vögel zwitscherten; bald würde die Sonne aufgehen. In ein paar Stunden, dachte Lat, würden Busse voller fröhhcher, nichtsahnender Touristen an der Kasse von Disney World vorfahren und für siebenundsechzig Dollar am Tag ihre Sorgen vergessen – zuzüglich all der Scheine, die für Hot Dogs und Pommes frites, Pinocchio Burger und Jurassic Park Nuggets über den
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