Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
Vom Netzwerk:
zu übersehen – die Andenken an ihren Sturz vor dem Krankenhaus. Julia sah sie lange an. Nina Marquette war eine elegante, stattliche Dame mit markanten Gesichtszügen und breiten Schultern. Sie war der Typ Frau, der einen Raum beherrschen konnte. Doch nicht heute. Heute sah sie furchtsam und erschöpft aus, zu klein für ihren Körper. Sie sah aus wie eine Frau, die tagelang, wochenlang geweint hatte. Wie müssten sich die Eltern eines Mörders fühlen? Wie fühlte es sich an, einen so hassenswerten Menschen erschaffen zu haben – jemanden, der kaltblütig seine eigenen Kinder ermorden konnte? Sie fragte sich, ob sich die Marquettes verantwortlich fühlten für die Sünden ihres Sohns. Hatte es Hinweise gegeben, die sie über die Jahre ignoriert hatten? Hätten sie irgendetwas anders machen können, um das Geschehene zu verhindern? Stellten sich die Eltern von Mördern wie Eric Harris und Dylan Klebold – den Teenagern, die das Massaker an der Columbine Highschool angerichtet und sich dann selbst getötet hatten – noch immer diese Frage Jahre danach? Für die Marquettes war es doppelt schwer, wie sie vermutete – denn sie hatten auch noch ihre Enkelkinder und ihre Schwiegertochter verloren. Sie mussten gleichzeitig Trauerarbeit leisten, auch wenn Julia wusste, dass Jennifers Verwandte und Freunde gegen ihre Anwesenheit bei der Beerdigung protestiert hatten. Jetzt standen sie kurz davor, auch noch ihren Sohn zu verlieren. Und auch seinen Tod würden sie nicht angemessen betrauern können. Sie würden einfach schweigend mitansehen müssen, wie der Wärter den schwarzen Vorhang zuzog und die Menge vor dem Gefängnis zu jubeln begann. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Geschworenenraum, und sie wurde aus ihren dunklen Gedanken gerissen. Eine Schlange von Untersuchungshäftlingen schlurfte mit rasselnden Ketten in den Saal, direkt aus dem Gefängnis gegenüber. Die meisten wirkten wie brutale Kraftprotze, waren mit Tätowierungen und Piercings übersät und verhielten sich äußerst provokativ. Nur einer fiel aus der Reihe. Ganz am Ende der Schlange und mit einigem Abstand zu seinem Vordermann ging ein schlanker Mann in rotem Overall. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Ein gespanntes Murmeln kroch durch den Saal, als die Zuschauer einander zuraunten:
« Ist er das?» Ohne Vorwarnung wurde die Tür hinter dem Richtertisch aufgerissen. Jefferson, der Gerichtsdiener, trat heraus, und noch bevor er etwas sagen konnte, stürmte ein griesgrämig dreinblickender Richter Farley an ihm vorbei in den Saal.
« Erheben Sie sich!», rief Jefferson etwas zu spät.
« Keine Pager, keine Handys! Keine Kinder, keine Gespräche! Die Sitzung ist eröffnet! Den Vorsitz hat der Ehrenwerte Richter Leonard Farley. Setzen Sie sich und verhalten Sie sich ruhig!» Jefferson arbeitete noch nicht lange bei Gericht. Er warf Farley einen unsicheren Blick zu, doch dieser schien für eine aufmunternde Geste heute nicht in Stimmung zu sein. Die Unterhaltungen wurden schnell eingestellt, während Farley in seinem Kaffee rührte und seine Untertanen musterte. Er tat, als würde er keine Notiz von den Kameras nehmen, doch Julia war überzeugt, dass er sich extra die Zähne mit Zahnseide gereinigt hatte. Selbst die Untersuchungsgefangenen verstummten, denn Farley war dafür bekannt, dass er sich nichts bieten ließ. An der Rückwand des Saales entdeckte Julia neben Dayanara, die zu ihrer Unterstützung gekommen war und ihr einen verschwörerischen Blick zuwarf, John Latarrino und Steve Brill. Lat lächelte ihr zu und winkte kurz. Sie lächelte zurück. Verbündete. Endlich.
« Na schön», sagte Farley schließlich und betrachtete die lange Reihe der Anwälte hinter dem Podium.
« Sieht ganz so aus, als hätten wir heute ein volles Haus. Dann legen wir mal los. Wer ist der Erste, Ivonne?»
KAPITEL 31
    WÄHREND IVONNE die Namen auf der Prozessliste aufrief und sich die Reihe der Verteidiger langsam nach vorn bewegte, schickte Julia ein Stoßgebet zum Himmel, dass Rick rechtzeitig kommen würde. Farley hasste es, wenn sein Ablauf durcheinandergeriet, und sie wollte nicht, dass er seinen Zorn an ihr ausließ. Im Saal wurde es bereits unruhig, und Stan Grossbach rückte an die dritte Stelle vor, als sich draußen wieder die Rufe der Journalisten erhoben. Dann öffneten sich die Türen des Saals, das Gemurmel verstummte, und Rick schritt selbstsicher und gutgekleidet den Mittelgang heran.
« Mr. Bellido», sagte

Weitere Kostenlose Bücher