Vaterland
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»Sind hier viele Obdachlose auf dem Gelände?«
»Immer ein paar Dutzend. Die Reichsbahnpolizei ve r sucht zwar, sie fernzuhalten, aber das Gelände ist zu groß, um gründlich überwach t zu werden. Sehen Sie mal da r ü ber. Da laufen ein paar von ihnen weg.«
Er wies über die Gleise. Zunächst konnte März nichts anderes sehen als eine Reihe von Viehwaggons. Dann nahm er im Schatten de s Zuges fast unsichtbare Bewegu n gen wahr - ein Schatten, der ruckweise wie eine Marionette rannte; dann noch einer; dann noch mehr.
Sie rannten die Waggons entlang, schossen in die L ü cken zwischen ihnen, warteten, und hasteten dann wieder heraus der nächste n Deckung zu.
Globus hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Ohne Ken n tnis ihrer Anwesenheit redete er immer noch mit Krebs und schmetterte sein e rechte Faust in die Fläche seiner linken Hand.
März beobachtete, wie die hölzernen Figuren sich ihren Weg in die Sicherheit erarbeiteten - und dann vibrierten plötzlich die Gleise, ei n Windsog, und der Blick wurde von dem Schlafwage n zug nach Rowno abgeschnitten, der aus Berlin heraus beschleunigte. Die Maue r aus doppelstöck i gen Speisewagen und Schlafwagen brauchte eine halbe Minute, um an ihnen vorbeizubrausen, und als sie vorbei war,
hatte die kleine Kolonie von Herumtreibern sich in der orangenfarbenen Dunkelheit aufgelöst.
TEIL V
SAMSTAG, 18. APRIL 1964
Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen,
wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben,
und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schw ä chen -
anständig geblieben zu sein, das hat uns hart g e macht.
Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.
HEINRICH HIMMLE R Geheimrede vor höheren
SS-Offiziere n Posen, am 4. Oktober 1943
EINS
Unter ihrer Tür blickte ein Lichtspalt hervor. In ihrer Wo h nung spielte ein Radio. Liebesmusik - weiche Geigen un d zärtliches Schmachten, angemessen für den Abend. Ein Fest? Benahmen sich Amerikaner angesichts einer G e fahr so? Er stand allein auf dem kleinen Vorplatz und sah auf seine Uhr. Es war fast zwei. Er klopfte, und nach ein i gen Augenblicken wurde die Tonstärke herabgedreht. Er hörte ihre Stimme. »Wer ist da?« »Polizei.«
Eine Sekunde oder zwei verstrichen, dann war da das Klacken von Riegeln und das Klirren von Ketten, und dann öffnete sich die Tür. Sie sagte: »Das war ein guter Witz«, aber ihr Lächeln war vorgetäuscht, zu seinen Gunsten au f geklebt. In ihren dunklen Augen sah er die Erschöpfung, und auch - wirkliche? - Angst. Er beugte sich vor und kü ß te sie, und seine Hände ruhten leicht auf ihrer Hüfte, und im gleichen Augenblick verspürte er den Stachel des B e gehrens. Mein Gatt, dachte er, sie macht aus mir einen Sechzehnjährigen ... Irgendwo in der Wohnung. Schritte. Er blickte auf. Über ihrer Schulter ragte ein Mann in der Tür des Badezimmers auf. Er war ein paar Jahre jünger als März: kräftige braune Straßenschuhe, Sportjacke, eine Fliege, ein weißer Jersey, der nachlässig über ein G e schäftshemd gezogen war. Charlie versteifte in März' Umarmung und machte sich sanft frei. »Erinnerst du dich an Henry Nightingale?« Er richtete sich auf und fühlte sich verlegen. »Natürlich, die Kneipe in der Potsdamer Straße.« Keiner der beiden Männer machte einen Schritt auf den anderen zu. Das Gesicht des Amerikaners war eine Maske. März blickte Nightingale an und fragte sanft: »Was geht hier vor, Charlie?« Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr:
»Sag nichts. Nicht hier. Es ist etwas geschehen.« Dann, laut: »Ist das nicht interessant, wir drei hier?« Sie nahm März' Arm und führte ihn zum Badezimmer. »Ich glaube, du solltest in mein Empfangszimmer kommen.«
Im Badezimmer benahm sich Nightingale wie der E i gentümer. Er drehte die Kaltwasserhähne über Bad und Handwaschbecken an un d die Tonstärke des Radios wieder auf. Das Programm hatte gewechselt. Jetzt vibrierten die gefliesten Wände im Rhythmus de s »deutschen Jazz« - e i ne behördlich genehmigte verwä s serte Nachahmung, aus der alle »negroiden Einflüsse« ausgemerzt worde n waren. Nachdem er alles zu seiner Zufriedenheit arra n giert hatte, hockte Nightingale sich auf den Rand der Badewanne. März sa ß neben ihm. Charlie kauerte auf dem Boden.
Sie eröffnete das Treffen: »Ich habe Henry über meinen Besucher von vorgestern
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