Vaterland
drückte die ganze N o tenroll e in die feuchten Hände des Ge schäftsführers.
Als Gegenleistung für seinen Bankrott erhielt März das Zimmer eines Küchenmädchens unter dem Dach, das vom dritten Stockwer k aus über eine wackelige Hintertreppe zu erreichen war. Sie mußten fünf Minuten am Empfang wa r ten, bis das Mädchen aus ihrem Hei m vertrieben und das Bett neu bezogen war. März lehnte Herr Breckers wiede r holte Angebote, ihnen beim Gepäck zu helfen, ebenso ab,
wie er seine lüsternen Blicke übersah, die der alte Mann Charlie ständig zuwarf. Allerdings fragte er nach etwas zu essen - Brot, Käse,
Schinken, Obst, eine Thermoskanne schwarzen Kaffees -, was der Geschäftsführer persönlich hochzubringen ve r sprach. März sagt e ihm, er solle es auf dem Gang stehe n lassen.
»Das ist nicht das Adlon«, sagte März, als er mit Charlie allein war. Der kleine Raum war erstickend. Alle Hitze des Hotels schie n emporgestiegen zu sein und sich unter den Ziegeln g e sammelt zu haben. Er stieg auf einen Stuhl, um die Luke der Dachkammer z u öffnen, und sprang in einem Staubregen wieder herab.
»Wen kümmert das Adlon?« Sie schlang ihre Arme um ihn und küßte ihn fest auf den Mund.
Der Geschäftsführer stellte das Tablett mit Essen wie angewiesen vor die Tür. Die Treppen zu steigen hatte ihn fast umgebracht.
Durch drei Zentimeter Holz lauschte März auf sein ra s selndes Keuchen und dann auf seine Schritte, die sich durch den Gan g entfernten. Er wartete, bis er sicher war, daß der alte Mann wirklich gegangen war, ehe er das Ta b lett hereinholte und auf den winzige n Ankleidetis ch stel l te. Da es an der Tür kein Schloß gab, keilte er einen Stuhl u n ter die Klinke.
März legte Luthers Koffer auf das harte Holzbrett und nahm sein Taschenmesser heraus.
Das Schloß war so gearbeitet worden, daß es eben dieser Art von Angriff widerstehen konnte. Es kostete ihn fünf Minuten de s Hackens und Stemmens, wobei ihm eine ku r ze Klinge zerbrach, ehe der Verschluß aufsprang. Er zog die Tasche auf.
Wieder dieser Papiergeruch - der Geruch von lange ve r schlossenen Aktenschränken oder Schreibtischschubladen, ein Hauch vo n Schreibmaschinenöl. Und dahinter noch etwas: etwas Antiseptisches, Medizinisches ...
Charlie lehnte sich über seine Schulter. Er konnte ihren warmen Atem auf seiner Wange spüren. »Sag's mir nicht. Er ist leer.«
»Nein. Er ist nicht leer. Er ist voll.«
Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von den Händen. Dann stürzte er den Koffer um und schüttete seine n Inhalt auf die Bettdecke.
VIER
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG VON
WILHELM STUCKART, STAATSSEKRETÄR,
MINI S TERIUM DES INNERN:
[4 Seiten; maschinegeschrieben]
Am Sonntag, dem 31. Dezember 1941, ersuchte mich der Berater des Innenministeriums für jüdische Angelegenhe i ten, Dr. Bernhard Losener, um ein dringendes Privatg e spräch. Er unterrichtete mich, daß sein Untergebener, der Stellvertretende Berater für Rassenfragen,
Dr. Werner Feldscher, von einer absolut vertrauenswü r digen Quelle, einem Freund, erfahren habe, daß die einta u send Juden, die kürzlich aus Berlin evakuiert worden wa r en, im Wald von Rumbuli in Polen ermordet worden seien. Er unterrichtete mich ferner, daß seine Gefühle der Emp ö rung so stark seien, daß er seine gegenwärtige Arbeit im Ministerium nicht weiter fortsetzen könne und daß er dah e rersuche, ihn mit anderen Aufgaben zu betrauen. Ich erw i derte, daß ich mir in dieser Angelegenheit Klarheit ve r schaffen würde. Am nächsten Tag suchte ich auf meine Bitte hin Obergruppenführer Reinhard Heydrich in seinem Büro in der Prinz-Albrecht-Straße auf. Der Obergruppe n führer bestätigte, daß Dr. Feldschers Informationen zutre f fend seien und drängte mich, die Quelle herauszufinden, da solche Sicherheitslecks nicht geduldet werden könnten.
Dann schickte er seinen Adjutanten aus dem Zimmer und sagte, er wolle mit mir auf privater Basis sprechen. Er unterrichtete mich, daß er im Juli in das Führerhauptqua r tier in Ostpreußen bestellt worden sei. Der Führer habe zu ihm ganz offen wie folgt gesprochen: Er habe sich en t schieden, die jüdische Frage ein für allemal zu lösen. Die Stunde sei gekommen. Er könne nicht darauf vertrauen, daß seine Nachfolger den nötigen Willen oder die militär i sche Macht hätten, über die er jetzt verfüge. Er habe keine Angst vor den Folgen. Heute verehrten die Leute die Fra n zösische Revolution, wer aber
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