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Vaterland

Vaterland

Titel: Vaterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sich zur Konfrontation mit dem Bild um. Eine schwarze Uniform, ein hageres weißes Gesicht, silbernes Haar - überhaupt kein menschl i cher Zug, sondern das fotografische Negativ eines Schädels; eine Röntgenaufnahme. Die einzige Farbe war im Zentrum di e ses Totenmaskengesichtes: diese winzigen blaßblaue n A u gen, wie Splitter vom Winterhimmel. März war Heydrich nie begegnet, hatte ihn nie gesehen; hatte nur Geschichten über ihn gehört. Die Presse schilderte ihn als Nietzsches Übermenschen, der in ihm lebendig geworden war. Hey d rich in seiner Pilotenuniform (er hatte Kamp f einsätze an der Ostfront geflogen). Heydrich in seinem Fechtdreß (er hatte bei den Olympischen Spielen für Deutschland gefoc h ten). Heydrich mit seiner Geige (er konnte durch das P a thos seines Spiels die Zuhörer zu Tr ä nen rühren). Als vor zwei Jahren das Flugzeug mit Hei n rich Himmler in der Luft explodiert war, hatte Heydrich das Amt des Reich s führers SS übernommen. Nun hieß es, er gehöre zu den möglichen Nachfolgern Hitlers. Bei der Kripo munkelte man, der oberste Polizist des Reiches liebe es, Prostituierte zu verprügeln.
    März setzte sich. Eine betäubende Müdigkeit durchs i ckerte ihn, eine Lähmung: zuerst die Beine, dann den Kö r per, und zuletzt den Geist. Gegen seinen Willen trieb er in einen seichten Schlaf ab.
    Einmal glaubte er, er habe von ferne einen Schrei gehört - menschlich und verloren -, aber das hätte auch ein Traum sein können. Schritte klangen in seinem Geist auf. Schlü s sel drehten sich. Zellentüren dröhnten.
    Er wurde grob wachgerüttelt.
    »Guten Morgen, meine Herren. Ich hoffe, Sie konnten sich etwas ausruhen?«
    Es war Krebs.
    März fühlte sich wie wund. Seine Augen waren in dem kränklichen Neonlicht sandig. Durch das Fenster sah er den Himmel i m nahenden Morgen perlgrau werden.
    Jäger grunzte und schwang die Beine auf den Boden. »Und jetzt?«
    »Jetzt unterhalten wir uns«, sagte Krebs. »Kommen Sie.«
    »Wer ist dieses Jüngelchen«, brummte Jäger März zu, »uns so herumzuschubsen?« Aber er war vorsichtig genug, seine Stimme leis e zu halten.
    Nacheinander gingen sie durch den Korridor, und wieder fragte sich März, welches Spiel hier gespielt werde. Verh ö ren ist eine Kuns t der Nacht. Warum damit bis zum Mo r gen warten? Warum ihnen die Möglichkeit geben, wieder zu Kräften zu kommen, sich eine Ge schichte auszude n ken?
    Krebs hatte sich kürzlich rasiert. Seine Haut war mit winzigen Schnittwunden übersät. Er sagte: »Der Wasc h raum ist rechts. Sie werde n sich frisch machen wollen.« Das war eher eine Anor d nung denn eine Frage.
    März sah im Spiegel rotäugig und unrasiert eher nach e i nem Verbrecher als nach einem Polizisten aus. Er ließ das Waschbecken vollaufen, rollte die Ärmel hoch und löste die Krawatte, klatschte sich eisiges Wasser ins Gesicht, auf die Arme, in den Nacken, ließ es den Rücken hinunter trö p feln. Das kalte Stechen brachte ihn ins Leben zurück. Jäger stand neben ihm. »Denk dran, was ich dir gesagt hab.« März drehte schnell den Hahn wieder auf. »Vo r sicht.« »Du glaubst, die hören die Toilette ab?« »Die hören alles ab.«
    Krebs führte sie nach unten. Die Wache schloß sich i h nen an. In den Keller? Sie klapperten durch die Empfang s halle - jetzt ruhiger als bei ihrer Ankunft - und hinaus in das mürrische Licht. Nicht in den Keller.
    Im BMW wartete der Fahrer, der sie von Stuckarts Wohnung hergefahren hatte. Der Konvoi fuhr los, nach Norden in den Stoßverkehr hinein, der sich schon um den Potsdamer Platz herum zusammenbraute. Die Schaufenster der großen Geschäfte stellten fromm große, goldgerahmte Fotografien des Führers zur Schau - das offizielle Porträt aus der Mitte der Fünfziger, von dem englischen Fotogr a fen Beaton. Zweige und Blumen schmückten die Rahmen, der traditionelle Schmuck, der Führers Geburtstag ankü n digte. Noch vier Tage, und jeder Tag würde ein neues E m porblühen von Hakenkreuzfahnen sehen. Bald würde die Stadt ein Wald aus Rot und Weiß und Schwarz sein.
    Jäger umkrampfte die Armstütze und sah aus, als sei ihm übel. »Kommen Sie schon, Krebs«, sagte er mit schmeichelnder Stimme. »Wir haben doch alle den gle i chen Rang. Sie können uns doch sagen, wo wir hinfahren.«
    Krebs gab keine Antwort. Die Kuppel der Großen Halle ragte vor ihnen auf. Zehn Minuten später, als der BMW nach links in die Ost - West-Achse einbog, erriet März ihr Ziel.
    Es war fast acht, als sie ankamen.

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