Vaterland
geflogen. März war sicher, daß er es war, der vom Zürcher Flughafen aus am Montag nachmittag die Pralinen geschickt hatte, vie l leicht unmittelbar bevor er an Bord eines anderen Flu g zeugs ging. Was bedeuteten sie? Kein Geschenk: ein Ze i chen. Sollte ihr Eintreffen bedeuten, daß er seine Au f gabe erfolgreich erledigt hatte? Oder daß er gescheitert sei?
März sah sich über die Schulter um ja, jetzt folgte man ihm, war er sicher. Sie hatten genügend Zeit gehabt, das zu organisieren, während er in Luthers Haus war. Wer waren ihre Leute? Die Frau in dem grünen Mantel? Der Student auf seinem Fahrrad? Hoffnungslos. Die Gestapo war zu gut, als daß er sie hätte erkennen können. Es würden mi n destens drei oder vier sein. Er verlängerte seine Schritte. Er näherte sich dem Bahnhof.
Frage: ist Luther am Montag nachmittag aus Zürich nach Berlin zurückgekommen, oder ist er außer Landes gebli e ben? Insgesamt neigte Man der Ansicht zu, er sei zurüc k gekehrt. Jener Anruf gestern Morgen in Bühlers Villa -.Bühler? Sprich doch. Wer ist da?. -, das war Luther gew e sen, da war er auch sicher. Also: angenommen, Luther hat die Päckchen aufgegeben, unmittelbar bevor er an Bord ging, sagen wir gegen 5 Uhr. Dann würde er gegen 7 Uhr an jenem Abend in Berlin gelandet sein. Und dann war er untergetaucht. Der Bahnhof Botanischer Gatten lag an der Linie der elektrisch betriebenen Stadtbahn in die Vo r orte. März kaufte sich einen Fahrschein für eine Mark und lu n gerte vor der Sperre herum, bis der Zug kam. Er stieg ein und dann, gerade als die Türen zuzischten, sprang er wi e der heraus und rannte über die metallene Fußgänge r brücke zum anderen Bahnsteig. Zwei Minuten später b e stieg er den Zug in südlicher Richtung, nur um in Lichterfelde h e rauszuspringen und die Strecke zurückzufahren. Der Bah n hof lag verlassen. Er ließ den ersten Zug nach Norden we i terfahren, bestieg den zweiten und ließ sich auf seinem Platz nieder. Der einzige andere Passagier in seinem W a gen war eine schwangere Frau. Er lächelte s ie an; sie sah weg. Gut.
Luther, Luther. März zündete sich eine Zigarette an. Ging auf die siebzig zu, nervöses Herz, tränende Augen. Zu paranoid, um auch nur seiner Frau zu trauen. Vor sechs Monaten sind sie zum ersten Mal gekommen, und da bist du ihnen durch Zufall entkommen. Warum bist du vor i h nen zum Berliner Flughafen geflüchtet?
Bist du durch die Kontrollen gekommen und hast dann beschlossen, deine Verbündeten anzurufen? In Stuckarts Wohnung muß das Telefon unbeantwortet geläutet haben, neben dem schweigenden blutüberströmten Schlafzimmer. In Schwa nenwerder muß Bühler, wenn Eis lers Schätzung der Todeszeit richtig war, schon von seinen Mördern übe r rascht gewesen sein. Haben sie das Telefon läuten lassen? Oder hat einer von ihnen geantwortet, während die anderen Bühler niederzwangen?
Luther, Luther: irgend etwas ist geschehen, das dich um dein Leben laufen ließ - an jenem Montagabend hinaus in den eisigen Regen. Er stieg an der Station Gotenland aus. Ein weiteres Stück Wirklichkeit gewordener architekton i scher Phantasie - Mosaikfußböden, polierte Steine, dreißig Meter hohe Fenster aus buntem Glas.
Das Regime schloß Kirchen und ersetzte sie durch den Bau von Hauptbahnhöfen, die wie Kathedralen aussahen.
Als er von der Überführung auf die Tausende von ha s tenden Reisenden hinabblickte, überließ März sich fast der Verzweiflung.
Myriaden von Leben - jedes mit seinen eigenen G e heimnissen und Plänen und seiner persönlichen Last von Schuld - kreuzten unte r ihm hin und her, und keines b e rührte das andere, und jedes war abgespalten und unte r schiedlich. Sich vorzustellen, daß er - allein einen einze l nen alten Mann unter so vielen herausfinden sollte - zum ersten Mal kam ihm der Gedanke phantastisch und absurd vor.
Aber Globus konnte es. Schon waren, wie März erke n nen konnte, die Polizeistreifen verstärkt worden. Das mu ß te während der letzte n halben Stunde geschehen sein. Die Orpe-Manner übe r prüften jeden Mann über sechzig. Ein Penner ohne Papiere wurde jammern d weggeführt.
Globus! März wandte sich vom Geländer ab und stieg in den abwärtsfahrenden Aufzug, um die eine Person in Be r lin zu suchen, die ih m vielleicht das Leben retten konnte.
VIER
Mit der zentralen U-Bahn-Linie zu fahren, war, in den Worten des Reichsministeriums für Propaganda und Kult u relle Aufklärung, eine Reise durch die deutsche Geschic h te,
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