Vaterland
Berlin-Gotenland, Bülowstraße, Nollendorfplatz, Wi t tenbergplatz, Nürnberger Platz, Hohenzollernplatz - die Stationen folgten einander wie Perlen auf einer Schnur.
Die Wagen, die auf dieser Linie liefen, stammten noch aus der Vorkriegszeit. Rote Wagen für Raucher, gelbe für Nichtraucher. Die hatten Holzbänke waren von drei Jah r zehnten Berliner Hintern glänzend poliert worden. Die meisten Passagiere standen, und hielten sich an den abg e nutzten ledernen Handgriffen fest und schwankten im Rhythmus des Zuges. Anschläge forderten sie auf, Info r manten zu werden. »Der Profit der Schwarzfahrer ist der Verlust der Berliner! Zeigt den Behörden jedes Verg e hen an!« »Hat er seinen Platz einer Frau oder einem Kriegsv e teranen angeboten? Die Strafe für Nichtanbieten: 25 Reic h smark!«
März hatte sich an einem Bahnsteigkiosk das Berliner Tageblatt, gekauft und durchflog es nahe der Tür lehnend. Kennedy und der Führer, der Führer und Kennedy - das war praktisch alles, was zu lesen war. Das Regime inve s tierte eindeutig und heftig in den Erfolg der Gespräche. Das konnte nur bedeuten, daß die Dinge im Osten noch schlechter standen, als man allgemein annahm. »Ein stä n diger Kriegszustand an der Ostfront wird uns helfen, eine gesunde Menschenrasse zu formen«, hatte der Führer ei n mal gesagt, »und wird uns daran hindern, wieder in die Weichlichkeit eines auf sich beschränkten Europas zurüc k zufallen.«
Die Menschen waren aber weich geworden. Welchen Sinn hat denn der Sieg sonst? Sie hatten Polen, um ihnen die Gärten umzugraben, und Ukrainer, die Straßen zu ke h ren, und französische Köche, ihre Speisen zu kochen, und englische Dienstmädchen, sie aufzutragen. Nachdem sie die Bequemlichkeiten des Sieges gekostet hatten, war i h nen der Appetit auf Krieg vergangen. Ganz unten auf einer der Innenseiten stand in einer so kleinen Schrift, daß man es kaum wahrnahm, Bühlers Todesanzeige. Es hieß, er sei infolge eines »Badeunfalls« gestorben.
März stopfte die Zeitung in die Tasche und stieg an der Bülowstraße aus. Von der offenen Plattform aus konnte er zu Charlotte Maguires Wohnung hinübersehen. Ein Scha t ten bewegte sich hinter dem Vorhang. Sie war zu Hause. Oder vielmehr: jemand war in der Wohnung.
Die Portiersfrau saß nicht in ihrem Sessel, und als er an die Wohnungstür klopfte, antwortete niemand. Er klopfte wieder, diesmal lauter. Nichts.
Er ging von der Tür weg und klapperte den ersten Teil der Treppe hinab. Dann blieb er stehen, zählte bis zehn und schlich sich wieder aufwärts, seitlich, den Rücken an die Wand gepreßt, eine Stufe; Pause - noch eine Stufe; Pause -, und jedesmal zuckte er zusammen, wenn er ein Geräusch verursachte, bis er schließlich erneut vor der Tür stand. Er zog seine Pistole.
Minuten verstrichen. Hunde bellten, Autos und Züge und Flugzeuge kamen vorüber, Säuglinge schrien, Vögel sangen: die Kakophonie der Stille. Und dann krachte im Innern der Wohnung lauter als alles andere eine Fußbode n planke. Die Tür öffnete sich einen Bruchteil.
März wirbelte herum und rammte sie mit der Schulter. Wer immer sich hinter der Tür befand, wurde von der G e walt des Kammstoßes zurückgeschleudert. Und dann war März drinnen und auf ihm, und schob ihn durch die winz i ge Diele ins Wohnzimmer. Eine Lamp e stürzte zu Boden. Er versuchte die Pistole hochzubekommen, aber der Mann griff nach seinen Armen. Und jetzt war er es, der rückwärts gedrängt wurde. Die Rückseiten seiner Beine stießen gegen einen niedrigen Tisch, und er stürzte hint e nüber und schlug mit dem Kopf gegen etwas, und die L u ger rutschte über den Boden.
Nun ja, das war ganz lustig, und unter anderen Umstä n den hätte März vielleicht gelacht. Aber er war bei dieser Art von Auseinandersetzungen nie besonders gut gewesen, und jetzt - nachdem er mit dem Überraschungsvorteil b e gonnen hatte - lag er unbewaffnet auf dem Rücken, den Kopf im Kamin, und die Beine immer noch auf dem Ka f feetischchen, in der Haltung einer Schwangeren, die sich einer inneren Untersuchung unterzieht. Sein Angreifer stürzte sich über ihn und trieb ihm die Luft aus.
Eine behandschuhte Hand krallte nach seinem Gesicht, die andere schloß sich um seine Kehle. März konnte weder sehen noch atmen. Er warf den Kopf von Seite zu Seite und biß in die Lederhand. Er drosch mit seinen Fäusten nach dem Kopf des anderen Mannes, konnte aber keine Kraft in seine Hiebe legen. Was da über ihm war, war nicht me n
Weitere Kostenlose Bücher