Vaterland
hingezogen, bis beide Frauen der Anrufe in letzter Minute vom Werde r schen Markt müde wurden:
»Tut mir leid, es ist etwas dazwischengekommen . . n Statt zu antworten sagte März: »So viele Fragen. Sie hätten Detektiv werden sollen.«
Sie schnitt ihm ein Gesicht. »So wenige Antworten. Sie hätten Reporter werden sollen.«
Der Kellner goß ihnen erneut Wein ein. Nachdem er sich zurückgezogen hatte, sagte sie: »Wissen Sie, als wir uns begegnet sind, hab ich Sie auf Anhieb gehaßt.« »Ach. Die Uniform. Sie löscht den Mann aus.«
»Die Uniform tut das. Als ich heute im Flugzeug nach Ihnen suchte, habe ich Sie kaum wiedererkannt.«
März wurde klar, daß es noch einen anderen Grund für seine gute Laune gab: Er hatte in keinem Spiegel einen Blick auf seine schwarze Silhouette erhascht, er hatte ni e mandem bei seinem Kommen zusammenfahren sehen. »Sagen Sie«, sagte er, »was erzählt man sich in Amerika über die SS?«
Sie rollte mit den Augen. »Ach bitte, März. Nicht. Wir wollen uns doch einen schönen Abend nicht verderben.« »Ich meine es ernst. Ich möchte es wissen, Er mußte sie mühsam zu einer Antwort überreden.
»Na schön, Mörder«, sagte sie schließlich. »Sadisten. Das personifizierte Böse. Alles. Sie haben danach gefragt. Das ist nicht persönlich gemeint, verstehen Sie? Noch Fr a gen?« »Eine Million. Ausreichend für ein ganzes Leben.« »Ein Leben! Na schön, machen Sie weiter. Ich habe sonst nichts vor.« Einen Augenblick lang war er sprachlos, von den Wahlmöglichkeiten wie gelähmt. Womit anfangen?
»Der Krieg im Osten«, sagte er. An Berlin hören wir nur von Siegen. Aber die Wehrmacht muß von der Front am Ural die Särge nachts in Sonderzügen heimschaffen, damit niemand sieht, wie viele Tote es da gibt«
»Ich hab irgendwo gelesen, das Pentagon schätzt, daß seit 1960 rund 100000 Deutsche gefallen sind. Die Luf t waffe bombardiert Tag für Tag die russischen Städte flach, aber immer noch greifen sie euch an. Ihr könnt nicht g e winnen, weil die nirgendwohin flüchten können. Und ihr wagt nicht, Kernwaffen einzusetzen, weil wir sonst vie l leicht zurückschlagen, und dann fliegt die Erde in die Luft.« »Was noch?« Er versuchte, sich an neuere Schla g zeilen zu erinnern. »Goebbels sagt, Deutschlands Wel t raumtechnik schlage die der Amerikaner jederzeit.«
»Ich glaube, das stimmt. Peenemünde hatte Satelliten Jahre vor uns in Umlaufbahnen.« »Lebt Winston Churchill noch?«
»Ja. Er ist jetzt ein alter Mann. In Kanada. Da lebt er. Auch die Königin.« Sie nahm seine Verblüffung wahr. »Elizabeth fordert die Krone von ihrem Onkel.«
»Und die Juden?«, fragte März. »Was haben wir ihnen nach Meinung der Amerikaner angetan?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum mit Sie das?« »Bit te. Die Wahrheit.«
»Die Wahrheit? Woher soll ich wissen, was die Wah r heit ist?«
Plötzlich wurde ihre Stimme lauter, sie schrie fast. Leute an den Nachbartischen begannen, sich zu ihr umzudrehen. »Uns hat man beigebracht, an die Deutschen wie an etwas aus einer anderen Welt zu denken. Für Wahrheit ist da kein Platz.« »Nun gut. Dann erzählen Sie mir die Prop a ganda.«
Sie blickte außer sich fort, aber dann sah sie mit einer solchen Intensität zurück, daß es ihm schwerfiel, ihrem Blick standzuhalten. »Na schön. Man sagt, daß ihr Europa nach jedem lebenden Juden durchkämmt habt - nach Mä n nern, Frauen, Kindern, Säuglingen. Man sagt, ihr habt sie in den Osten in Gettos verfrachtet, wo Tausende von ihnen an Unterernährung gestorben sind. Dann habt ihr die Übe r lebenden noch weiter in den Osten gezwungen, und ni e mand weiß, was danach geschehen ist. Eine Handvoll en t kam über den Ural nach Rußland. Ich habe sie im Ferns e hen gesehen. Komische alte Männer, die meisten von i h nen; ein bißchen verrückt. Sie sprechen von Hinrichtung s gruben, von medizinischen Experimenten, von Lagern, in die Leute hineingegangen sind, aber aus denen niemand mehr herauskam. Sie sprechen von Millionen Toten. Aber dann kommt der deutsche Botschafter in seiner eleganten Uniform und sagt jedem, daß das alles nur kommunistische Propaganda ist. Also weiß niemand, was wahr ist und was nicht. Und ich sag Ihnen noch etwas - den meisten Leuten ist das alles egal.« Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Zufrieden?« »Tut mir leid.«
»Mir auch.« Sie griff nach ihren Zigaretten, hielt dann inne und sah ihn erneut an. »Deshalb haben Sie im Hotel Ihre Meinung darüber geändert,
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