Vaterland
die Grenzen. Er kan n nicht wagen, direkt in die amerikanische Botschaft zu g e hen, nicht nach dem ganzen Rummel um den Kenn e dy-Besuch. Was also kan n er tun?«
»Das glaub ich einfach nicht. Er hätte mich am Dienstag anrufen können oder am Mittwoch. Oder am Donnerstag morgen. Waru m sollte er warten?«
Doch er konnte den Zweifel in ihrer Stimme hören. Er dachte:
Du willst es nicht glauben. Du hast geglaubt, du wärest schlau, als du in Zürich nach deiner Geschichte gesucht hast, aber während de r ganzen Zeit könnte deine Geschic h te in Berlin nach dir gesucht haben.
Sie hatte sich von ihm abgewendet, um durch das Fen s ter zu blicken.
März fühlte sich plötzlich entmutigt. In Wahrheit kannte er sie trotz allem kaum. Er sagte: »Der Grund, warum er gewartet haben könnte,
ist, daß er versucht hat, einen besseren, einen sichereren Weg zu finden. Wer weiß? Vielleicht hat er einen gefu n den.«
Sie antwortete nicht.
Sie landeten kurz vor zwei Uhr in Berlin im Nieselregen. Am Ende der Rollbahn trieb, als die Junkers wendete, die Feuchtigkeit quer übe r das Fenster und hinterließ Ketten aus Tröpfchen.
Das Hakenkreuz über dem Ankunftsgebäude hing schlaff in der Nässe.
An der Paßkontrolle gab es zwei Schlangen: eine für Deutsche und für Bürger der Europäischen Gemeinschaft, und eine andere für de n Rest der Welt.
»Hier müssen wir uns trennen«, sagte März. Er hatte sie mit einiger Schwierigkeit überredet, ihn ihren Koffer tr a gen zu lassen. Nun ga b er ihn ihr zurück. »Was machst du?«
»In meine Wohnung fahren, nehme ich an, und auf den Anruf warten. Und du?«
»Ich glaube, ich verschaff mir eine Geschichtsstunde.« Sie sah ihn verständnislos an. Er sagte: »Ich ruf dich später an.«
»Mach das bitte.«
Ein Überrest des alten Mißtrauens war zurückgekehrt. Er konnte es in ihren Augen sehen und spüren, wie sie es in seinen suchte. E r wollte etwas sagen, um sie zu beruhigen, so was wie »Mach dir keine Sorgen. Ein Geschäft ist ein Geschäft.«
Sie nickte. Ein unbehagliches Schweigen. Dann stellte sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen und rieb ihre Wa n ge gegen seine.
Sie war gegangen, ehe er sich eine Antwort ausdenken konnte.
Die Reihe der zurückkehrenden Deutschen schlurfte e i ner nach dem anderen schweigend heim ins Reich. März wartete mit hinter dem Rücken gefalteten Händen gedu l dig, während sein Reisepaß überprüft wurde. An diesen letzten Tagen vor Führers Geburtstag waren die Grenzkon t rollen immer schärfer, die Beamten immer nervöser.
Die Augen des Grenzschutzbeamten waren im Schatten seines Augenschirms verborgen. »Der Herr Sturmbannfü h rer ist schon drei Stunden vor der Zeit zurück.« Er zog eine dicke schwarze Linie durch das Visum, kritzelte »Ungü l tig« darüber und gab den Paß zurück.
»Willkommen daheim.«
In der vollen Halle sah sich März nach Charlie um, aber er konnte sie nicht sehen. Vielleicht hatten sie sich gewe i gert, sie wieder in s Land zu lassen. Er hoffte es fast: Es würde sicherer für sie sein.
Der Grenzschutz öffnete jede Tasche. Niemals zuvor hatte er solche Sicherheitsmaßnahmen gesehen. Es war ein Chaos. Die Passagier e wirbelten und stritten sich um die Kleiderhaufen herum, die Halle sah aus wie ein indischer Basar. Er wartete, bis er dran war.
Erst nach drei erreichte März die Gepäckaufbewahrung und bekam seinen Koffer zurück. In der Toilette zog er wieder seine Uniform an,
legte seine Zivilsachen zusammen und verstaute sie.
Er kontrollierte seine Luger und schob sie in den Halfter. Als er ging, sah er sich selbst im Spiegel. Eine vertraute schwarze Gestalt.
Willkommen daheim.
DREI
Wenn die Sonne schien, nannte die Partei das »Führerwe t ter«. Für Regen hatte sie keinen Namen.
Dennoch war verordnet worden, daß dieser Nachmittag, ob Nieselregen oder nicht, der Beginn der dreitägigen Feiern sein sollte. Un d so machte sich das Volk mit verbi s sener nationalsozialistischer Entschlossenheit ans Feiern.
März fuhr in einem Taxi südwärts durch Wedding. Dies war das Berlin der Arbeiter, in den Zwanzigern eine ko m munistische Hochburg.
Die Fabriksirenen hatten als festliche Gest e eine Stunde früher als gewöhnlich gegellt. jetzt waren die Straßen vo l ler durchnäßter Feiernder. Die Blockwarte waren tätig g e wesen.
Von jedem zweiten oder dritten Gebäude hing eine Fa h ne herab - meistens das Hakenkreuz, manchmal aber auch ein Banner mi t Schlagworten, das zwischen den e i
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