Vatermord und andere Familienvergnuegen
eine solche Szene war mir dann doch zu niedlich. Das hatte ich alles hinter mir. Ich war jetzt in dem Alter, wo Jungen Leichen in den Fluss warfen, keine Steine.
Wir spazierten weiter. Sie fragte mich, wie ich mich in dem Labyrinth zurechtfand. Ich sagte ihr, ich hätte mich eine Zeit lang ständig darin verlaufen, aber mittlerweile würde ich mich darin bewegen wie im Verdauungstrakt eines alten Freundes. Ich sagte ihr, ich würde jede Falte jedes lebenden Steins kennen. Ich brannte darauf, ihr die Namen der Pflanzen und Blumen und Bäume zu nennen, aber auf so vertrautem Fuß stand ich mit der Flora nun auch wieder nicht. Aber ich zeigte ihr wenigstens meine Lieblinge: »Da sind diese silbergrauen Sträucher mit den dichten Büscheln von knallgelben, kugeligen Blüten wie bunte, pelzige Mikrofone, und dieser kleine, bronzefarbene Baum mit den weißen, kugelrunden Früchten, die ich nicht mal essen würde, um eine Wette zu gewinnen, und der hier hat Blätter, so glänzend wie Fotopapier, und hier, ein wilder, verschlungener Bodendecker, der riecht wie eine Flasche Terpentin, die man um 2 Uhr morgens trinkt, wenn alle Schnapsläden geschlossen haben.«
Sie sah mich mit einem seltsamen Blick an und erschien mir wie mein Lieblingsbaum: hoch und gerade, von schlankem Wuchs und anmutig.
»Ich mach mich mal lieber auf den Weg. Zeig mir nur, in welche Richtung ich muss«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an.
»Du rauchst also immer noch wie ein Knacki in der Todeszelle.«
Sie sah mir direkt in die Augen, als sie ihre Zigarette anzündete. Sie hatte gerade den ersten Zug getan, als etwas Schwarzes, Fieses zu ihrem Gesicht herunterschwebte und auf ihrer Wange landete. Sie wischte es weg. Wir blickten beide zum Himmel hinauf. Lautlos rieselte Asche herab, dunkle Asche, die wild wirbelnd in der heißen, hellen Luft tanzte.
»Scheint ziemlich heftig zu sein«, sagte sie und schaute zu dem orangefarbenen Glühen am Horizont.
»Sieht so aus.«
»Glaubst du, es ist in der Nähe?«
»Keine Ahnung.«
»Ich glaube, es ist nah«, sagte sie.
Na und? Wir lebten in einem brennbaren Land. Es brach dauernd Feuer aus, es gingen dauernd Häuser drauf, es wurden Existenzen verpflanzt. Aber niemand packt seine Sachen und macht sich auf in sicherere Gefilde. Die Leute trocknen einfach ihre Tränen, begraben ihre Toten, kriegen Kinder und bleiben jetzt erst recht. Warum? Wir haben unsere Gründe. Welche das sind? Fragen Sie mich nicht. Fragen Sie die Asche auf Ihrer Nase.
»Warum siehst du mich so an?«
»Du hast ein bisschen Asche auf der Nase.«
Sie wischte sie weg. Es blieb ein schwarzer Schmierfleck zurück.
»Ist sie weg?«
Ich nickte und verlor kein Wort über den schwarzen Fleck. Ein ungezähmtes, hungriges Schweigen senkte sich herab und verschluckte ganze Minuten.
»Tja, ich muss dann wirklich mal gehen.«
»Warum ziehst du nicht deine Hose aus und bleibst ein bisschen?«, hätte ich gerne gefragt, tat es aber nicht. Es steht außer Zweifel, dass man in prägenden, charakterformenden Momenten tunlichst die richtige Entscheidung trifft. Die Form trocknet so schnell und wird hart.
Wir gingen über eine Lichtung, auf der das Gras so kurz war, dass es wie grüner Sand aussah, und ich führte sie zu einer Höhle. Ich ging hinein, und sie kam mir nach. Im Inneren war es kalt und dunkel.
»Was machen wir hier?«, fragte sie misstrauisch.
»Ich möchte dir was zeigen. Schau, das ist Höhlenmalerei.« »Wirklich?«
»Klar. Ich habe sie erst letzte Woche selbst gemalt.« »Oh.«
»Bist du jetzt enttäuscht? Ich sehe nicht ein, warum man fünfzigtausend Jahre alt sein muss, um eine Höhlenwand zu bemalen.«
Und da beugte sie sich vor und küsste mich.
5
Einige Wochen später lagen das Flammende Inferno und ich im Bett, und ich fühlte mich so sicher, als wären wir beide in einer großen Stahlkammer eingelagert. Sie lag auf der Seite, den Kopf auf die Hand gestützt, der so unbeugsam war wie eine Stahlstange. Ihr Stift schwebte über einer Kladde, aber sie schrieb nicht.
»Woran denkst du?«, fragte ich. »Ich denke, woran du wohl denkst.« »Das ist keine Antwort.« »Na, woran denkst du?« »Das, woran du denkst.«
Sie schnaubte. Ich setzte ihr nicht weiter zu. Sie behielt gerne Dinge für sich, wie ich - wollte nie, dass jemand alles wusste, was in ihr vorging, damit er es nicht gegen sie einsetzte. Ich glaubte, sie hatte genau wie ich festgestellt, dass andere von einem immer die Bestätigung haben
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