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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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meinem Kopf zu hören war, das lärmende Echo einer alten Wut war, das alle ihre Fragen übertönte? Ich gehörte offensichtlich zu den Menschen, die an einem Groll ein Leben lang festhalten können. Ich kochte immer noch vor Zorn darüber, wie gnadenlos die Medien meine Familie zu Terrys Sturm-und-Drang-Zeit gehetzt hatten. Was sollte ich machen? Sie riefen an und an und an. Sie fragten mich nach mir selbst, meinem Vorhaben, meinem Bruder. Verschiedene Stimmen, dieselben Fragen. Als ich nach draußen ging, hörte ich sie von irgendwoher im Labyrinth rufen. Helikopter kreisten über mir. Ich ging wieder ins Haus, schloss die Tür ab, legte mich ins Bett und machte das Licht aus. Ich hatte das Gefühl, meine ganze Welt stünde in Flammen. Ich wusste, dass ich mir das selbst angetan hatte, aber das machte es nicht leichter. Es machte es schlimmer.
    Das Fernsehmagazin brachte die Story trotzdem. Oscar Hobbs gab ein Interview. Offensichtlich wollte er nicht Gefahr laufen, dass ich mit meiner Misanthropie alles verdarb. Zu meinem Entsetzen gruben sie alte Aufnahmen von mir aus, aus der Zeit von Terrys Amoklauf; weil ich damals nicht fernsah, hatte ich sie nie zu Gesicht bekommen. Alles war da: unsere nicht mehr existierende Stadt, die ich samt Observatorium niedergebrannt hatte, und im Fernsehen waren sie alle quicklebendig: meine Mutter, mein Vater, Terry und sogar ich! Mein siebzehnjähriges Ich! Unglaublich, dass ich jemals so jung gewesen war. Und so mager. Und so hässlich. Im Fernsehen bin ich nur Haut und Knochen und stakse aus dem Bild mit den sicheren Schritten eines Menschen, der sich in die Zukunft aufmacht und nicht weiß, dass sie ihm schlecht bekommen wird. Ich empfand sofort eine Hassliebe gegenüber meinem früheren Ich. Ich liebte mich selbst, weil ich so zuversichtlich in die Zukunft schreiten konnte, und ich hasste mich selbst, weil ich, als ich dort ankam, alles versaute.
    Am folgenden Morgen begab ich mich zum Hobbs News Building, einer abweisenden Festung in der City, schalldichte, geruchsdichte und armutsdichte Büros verteilt auf siebenundsiebzig Stockwerke. Sobald ich die Lobby betreten hatte, wusste ich, dass ich in einer Nanosekunde eine Ewigkeit älter geworden war. Die Menschen, die an mir vorbeihetzten, waren so jung und gesund, dass ich schon einen Hustenanfall bekam, wenn ich sie nur ansah. Sie gehörten zu einem neuen Typ von arbeitenden Männern und Frauen, ganz anders als die Spezies von Erwerbstätigen, die in fieberhafter Unruhe darauf wartet, um mit Punkt 5 Uhr aus der Knechtschaft entlassen zu werden. Dies waren pathologisch gestresste Konsumenten, die ununterbrochen arbeiteten, in Industrien, die sich neue Medien, digitale Medien und Informationstechnologie nannten. An diesem Ort waren alte Methoden und Technologien nicht mal mehr Erinnerung, und wenn doch, dann sprach man darüber mit liebevoller Nachsicht, als diskutiere man über den Tod von peinlichen Verwandten. Eines war sicher: Diese neue Arbeitskultur hätte Marx sprachlos gemacht.
    Entgegen meinen Erwartungen waren weder Oscars noch Reynolds Büro ganz oben, sie befanden sich beide irgendwo in der Mitte des Gebäudes. Als ich den kargen, aber stilvollen Empfangsbereich betrat, war ich gerade dabei, mein Wartegesicht aufzusetzen, als eine Sekretärin mit Torpedobrüsten sagte: »Gehen Sie einfach rein, Mr. Dean.«
    Oscars Büro war erstaunlich klein und schlicht, mit Fenster zum Gebäude gegenüber. Er telefonierte mit jemandem, seinem Vater, wie ich annahm, der ihm den Kopf zurechtrückte, und zwar so laut, dass ich deutlich die Worte »Bist du vollkommen verblödet?« hören konnte. Oscar zog die Augenbrauen hoch, winkte mich herein und bedeutete mir, ich solle auf einem wunderschönen und sehr unbequem aussehenden antiken Stuhl mit stocksteifer Lehne Platz nehmen. Ich ging stattdessen zum Bücherregal. Er hatte eine eindrucksvolle Sammlung von Erstausgaben - Goethe, Schopenhauer, Nietzsche (in Deutsch), Tolstoi (in Russisch) und Leopardi (in Italienisch) -, was mir einige Zeilen der erbaulichen Dichtung des Letztgenannten in Erinnerung rief:
     
    »Was war dies bittre Stückchen Zeit dem man den Namen Leben verlieh?«
     
    Als Oscar den Hörer auflegte, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht recht deuten. Ich ging sofort zum Angriff über. »Hören Sie, Oscar, ich habe Ihnen nicht gestattet, mit dem Namen meines Bruders hausieren zu gehen. Das hier hat nichts mit ihm zu tun.«
    »Ich finanziere dieses Projekt, ich

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