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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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noch nie zuvor jemandem anvertraut hatte. Er hörte sich meine Geständnisse aufmerksam an, und als ich ihm die Liebes- beziehungsweise Horrorgeschichte von mir und dem Flammenden Inferno erzählte, sagte er, er finde, ich hätte sie »zwar aufrichtig, aber nicht wirklich geliebt«. Da konnte man kaum widersprechen.
    Aber was mich am meisten an meinem Onkel begeisterte, war die Tatsache, dass er über die wirkliche Welt sprach - über Gefängnisse und Blutbäder, über Ausbeuterei und Hungersnöte, über Schlachthäuser, Bürgerkriege, Könige und moderne Piraten. Es verschaffte mir eine wunderbare Erleichterung, zur Abwechslung mal aus dem philosophischen Elfenbeinturm herauszukommen, diesem drückenden, erstickenden Universum von Dads gedanklichen Sackgassen und intellektuellen Außenklos. Terry erzählte von seinen Erlebnissen in China, in der Mongolei, in Osteuropa und Indien, von seinen Vorstößen in entlegene und gefährliche Gegenden, über die Mörder, denen er in schäbigen Spielhöllen begegnet war, und wie er unter ihnen diejenigen ausgewählt hatte, die der basisdemokratische Verbrechenskooperative beitreten sollten. Er erzählte von seinen Leseerfahrungen, wie er mit Dads Lieblingsbüchern angefangen hatte und wie schwierig die Lektüre anfangs war, wie er dann aber seine Liebe zum gedruckten Wort entdeckt und in Wüsten und Dschungeln, in Zügen und auf den Rücken von Kamelen Bücher verschlungen hatte. Er berichtete mir von dem Augenblick, in dem er dem unmäßigen Fressen verfallen war (es war in Tschechien geschehen, bei einer kalten Tomatensuppe mit Klößchen). Er betrachtete Essen als seinen Draht zu den Menschen, und auf seinen Reisen wurde er, wo er auch hinkam, zu Tisch gebeten; er lernte die Esszeremonien aller Rassen kennen, er erlebte jede Kultur und alle Bräuche der Welt. »Fett sein, heißt das Leben lieben«, meinte er, und ich begriff, dass sein Bauch nicht eine undurchdringliche Mauer war, um ihn von der Welt abzuschotten, sondern seine Art, die Welt zu umarmen.
    In den meisten Nächten kamen Nutten ins Haus, manchmal zwei oder drei gleichzeitig. Ihre professionelle Maske schmolz beim Anblick von Terrys enormer Leibesfülle stets dahin, und das berühmte thailändische Lächeln auf ihren jungen, unverbrauchten Gesichtern gerann zu Grimassen. Wir Übrigen konnten gar nicht anders, als Mitleid mit diesen Prostituierten zu empfinden, wenn sie Terry zu seinem Schlafzimmer führten wie Zoowärterinnen mit dem Auftrag, einen besonders erregten Gorilla ruhigzustellen. Aber wenn sie wieder herauskamen, war es, als habe diese Erfahrung sie stärker und sogar jünger gemacht. Er hatte aber auch Lieblingsnutten, die Nacht für Nacht wiederkamen. Oft aßen sie gemeinsam mit uns, und nie hörten sie auf zu lächeln und zu lachen. Kein Zweifel, dass er sie leidenschaftlich liebte. Er überhäufte sie mit Zuneigung und Aufmerksamkeiten, und ich glaube, er fand tatsächlich nichts Abstoßendes daran, dass sie dann weggingen, um mit anderen zu ficken. Seine Liebe war wirklich unkompliziert. Es war eine Liebe ohne Besitzdenken. Es war reine Liebe. Und ich konnte nicht anders, als seine Liebe zu den Prostituierten mit meiner Liebe zum Flammenden Inferno zu vergleichen, die derart tief im Morast des Besitzdenkens steckte, dass man leicht hätte einwenden können, dass das, was ich für sie empfand, mit Liebe gar nichts zu tun hatte.
     
    Dad war distanziert und griesgrämig während der ersten Zeit in Thailand. Wenn wir es mal riskierten auszugehen und in einem Restaurant zu essen, in dem auch australische Touristen verkehrten, so tauchte prompt sein Name in ihren Gesprächen auf, und es widerte Dad an, wie man in der dritten Person über ihn herzog. Oft kaufte er sich australische Zeitungen und las sie zähneknirschend; anschließend schrieb er ausführliche Briefe an die Herausgeber, und ich bat ihn inständig, sie nicht abzuschicken. Ich selbst hielt mich von Zeitungen meilenweit fern und schwor, dies für alle Zeiten so zu halten. Ich war zu der Ansicht gelangt, dass Zeitungslesen etwa so ist, als würde man die eigene Pisse trinken. Manche sagen ja, das sei gesund, aber ich glaube nicht daran.
    Vielleicht forderten diese Hasswellen aus Australien schließlich ihren Tribut, denn Dad begann wieder zu sterben. Es war klar, dass der Krebs seine Lunge wieder befallen hatte und sich ausbreitete. Innerhalb weniger Monate wurde sein Körper zum Prunkstück einer Schreckenskammer. Es sah aus, als werde er

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