Vellum: Roman (German Edition)
Wände, über den Tresen, der Stuhl kippt in ihre Richtung; der dunkle Engel schlägt ihn mit der Faust beiseite, blickt nicht einmal auf, sondern brüllt weiter auf sie ein, ohne auch nur Luft zu holen – trotz des Chaos spürt sie, wie allmählich Ordnung in ihre Gedanken zurückkehrt, wie eine einfache Notwendigkeit in den Vordergrund tritt.
Sie muss aufstehen.
Die lebenden Schatten gleiten durch die Luft, winden sich, beißend und schwarz, legen sich über sie wie zuvor über die Wände, sie breiten sich aus, um den ganzen Raum mit ihrem wahnsinnigen Zorn zu erfüllen, hüllen den blonden Engel ein, schlingen sich um ihn. Auf seiner Haut bilden sich Sätze, ein Fluch – ein unverzeihliches Schicksal – esst das Brot der Erde – nicht Speise, sondern Schmutz – und Wasser nur aus den Abflussrinnen – kein Stuhl, sondern nur Stufen vor der Schwelle – die Trunkenen und die Dürstenden mögen dich auf die Wange schlagen.
Sie muss aufstehen, bevor Eresch die bindende Hand und die bindenden Worte des Engels abstreift, bevor sie den Engel auslöscht.
»Steh auf«, brüllt der dunkle Engel sie an. Er könnte sie einfach auf die Füße zerren, aber sie weiß, dass das nichts brächte. Sie muss es selbst schaffen. Sie legt die linke Hand auf den Tresen und hebt das linke Bein, verlagert ihr Gewicht, sodass sie nur noch mit einem Knie den Boden berührt. Die Welt flackert – schwarz, weiß, schwarz, weiß – im Rhythmus ihres pochenden Herzens. Mit der Hand spürt sie den massiven Tresen, und sie zieht sich hoch, verlässt sich nicht auf sein Gewicht oder seine Stabilität, sondern auf die Gewissheit, dass er wirklich existiert.
Und sie zieht und zerrt sich ins Land der Lebenden zurück.
Inanna ersteht auf.
Zwischen Ewigkeit und Jetzt gefangen
Inanna ersteht auf.
Im Raum herrscht Stille. Sie steht da, breitbeinig – nicht so sicher wie sonst, aber immerhin –, den tätowierten Arm nach vorne ausgestreckt, die Handfläche nach außen, die Finger gespreizt, um die Welt anzuhalten. Auf ihrem Arm bewegt sich die ihr in die Haut eingravierte Tätowierung, schwarze Leuchtspurgeschosse gleiten unter ihrer Haut entlang, blitzen hie und da blutrot auf, während die Bitläuse des Konvents die Geschichte ihres Lebens dekonstruieren und rekonstruieren – die Geschichte eines ihrer Leben, genau genommen. Inannas Geschichte ist noch immer ein Teil von ihr, wie Phreedoms Geschichte auch, aber wie jede Geschichte, die nacherzählt wird, verändert sie sich dabei. Ihren Leib hat Anna einer einstmals toten Unkin überlassen, aber ihre Seele gehört wieder ihr. Die Prägung, die Phreedom ausmacht, nimmt in dem sich wandelnden Muster Gestalt an, klar und deutlich – wenn auch leicht verändert, wie sie bemerkt, durch etwas Neues ergänzt, aber dem Wesen nach noch immer die ihre –, während die Bitläuse ihren Körper neu schreiben, ihre vernarbte, befleckte Seele, während sie herunterladen, was Metatron ihnen einkodiert hat. Sie betrachtet die Veränderungen, die sich allmählich herausbilden, ein wenig besorgt; der Schreiber des Konvents könnte einen kleinen Zauberspruch hineingeschmuggelt haben, um sie zu binden. Aber nein, sie erkennt ihre eigene Arbeit wieder. Und ganz so, wie sie einst den Avatar mit einer behandschuhten Hand schuf, die an die virtuelle Realität angeschlossen war, erschafft der KI-Geist von Phreedoms Cypherlady sie mit Hilfe eines Ärmels voller Bitläuse, die an das Vellum angeschlossen sind, von Grund auf neu.
Die Anunnaki, Richter der Unterwelt, griffen nach Inanna, als sie kurz davor stand, aus der Unterwelt aufzuerstehen.
Im Raum herrscht Stille. Sie steht da, den Arm ausgestreckt, bis zu den Schultern im Vellum, und hält den Augenblick fest. Der dunkelhaarige Engel kauert noch immer auf dem Boden; der andere Engel hält Eresch umklammert und sie ihn – Blut läuft ihm über den Handrücken, ein Knochensplitter ragt aus der Haut. Wie eine Simwelt durch ein Fingerschnippen angehalten wird, hält sie alles fest.
Es ist nicht einfach. Die schwarze Tinte von Madame Iris, von Eresch von der großen Erde – das schwarze Blut ihrer Vorfahren, Herren des Himmels und der Erde, Anu und Ki , die fließende Erinnerung der Anunnaki selbst – hängt in der Luft, zwischen Ewigkeit und Jetzt gefangen, aber es bedarf ihrer ganzen Macht, sich auf das Wort in ihren Gedanken zu konzentrieren, das die Zeit anhält. Diese Wölkchen und Schatten sind die Reste der Unkin,
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