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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Jahren dem Lumpensammler abgekauft hat, um uns etwas über Kunst beizubringen — Impressionismus und dergleichen. Darauf war eine Gruppe alter Kerle in schicken schwarzen Gehröcken zu sehen, die bei einem Picknick mit einer nackten Frau beisammen saßen. Keinem von ihnen schien es etwas auszumachen, dass die Männer angezogen waren und die Frau nicht. Was sollte sie darstellen — das Modell eines Künstlers oder eine Hure, die von ein paar reichen alten Säcken bezahlt wurde? Ich und die anderen Jungs mussten kichern, weil es ein schmutziges Bild war. Aber ich weiß noch gut, wie uns die Frau aus dem Gemälde ansah, geradezu herausfordernd. Was stimmte an dem Bild nicht?
    »Schau nicht so mürrisch drein«, sagt Jack.
     
    »Ich muss zurück«, erwidere ich. »Es ist sicher schon Mittag durch.«
    »Komm jetzt, sei nicht gekränkt. Bleib noch ein wenig. Du bist doch gerade erst gekommen.«
    »Wenn du mir sagst, wer du bist.«
    Ich hebe meine Jacke auf und ziehe sie über.
    »Das kann ich nicht«, sagt er und rappelt sich auf.
    Er setzt zu einer Erklärung an, doch dann schüttelt er nur den Kopf. Der geheimnisvolle Jack, der tote Jack. Dass er sich weigert, über seine Vergangenheit zu sprechen, lässt mich nur noch hartnäckiger werden, verwandelt Begehren in rasendes Verlangen. Er will nicht einmal zugeben, dass er eine Vergangenheit hat!
    »Liebst du mich nicht? Nein, darauf will ich keine Antwort.«
    Mein Blick schweift über die Reihe kreuzweise aneinander festgezurrter Stahlspitzen und den Stacheldraht dazwischen, und ich muss an Geschichtsbücher denken, an verminte Strände in Kriegszeiten, die den Feind an der Landung hindern sollen. Dieser Zaun mit seinen klimpernden Uhrketten und Schlüsselanhängern und dergleichen mehr ist jedoch kein Bollwerk gegen fremde Armeen, sondern gegen etwas weit weniger Fassbares. Mein Blickt schweift über die schmutzig grauen Wellen und ich hasse mich für das, was ich gerade gesagt habe. ›Liebst du mich nicht?‹ Wenn es wenigstens ironisch gemeint gewesen wäre. War es aber nicht. Und je mehr ich mich an ihn klammere, desto mehr zieht er sich zurück. Doch ich kann nicht anders, ich bin zu schwach. Ich will einfach nur wissen, warum er mich nicht an sich heranlässt.
    »Tom«, sagt er.
     
     
    Die Vereinigten Staaten von Anachronismus
     
    Anna tritt den Ständer nach unten und lässt den Blick über den Parkplatz schweifen. In einem angrenzenden Gebäude sind ein Rasthaus und eine Kegelbahn untergebracht, in einem Wäldchen unweit der Business 70. Direkt daneben ein von Flutlicht erleuchtetes Baseballfeld, auf dem Kinder und Eltern aufgeregt umherlaufen, vor oder nach einem Spiel. Danach, denkt sie. Der Abend ist nicht mehr allzu fern, es ist ungefähr sieben Uhr. Sie würde sich wundern, wenn die Kinder erst jetzt mit dem Spiel anfingen. Aber sicher ist sie sich nicht, bei dem Gedränge und Geschnatter. Das Kichern der Kinder klingt wie Vogelgezwitscher und die Väter muhen wie stolze Bullen, tragen Baseballmützen mit Vokuhila. Zwischen den Beinen der Mütter springen Kinder umher – Mama, Mama!
     
    Sie kann ihre Empfindungen nicht in Worte oder Sätze fassen – die Sehnsucht nach einem normalen Leben, wie diese Leute es führen; Trauer über das, was ihnen bevorsteht; Verbitterung über die leichtfertige Banalität von allem. Ihr wird das immer fremd bleiben: die Freude an der absurden Einfältigkeit eines Lebens, in dem sie nicht mehr von Dämonen getrieben wird. Ist es nicht erstaunlich, wie diese Leute die Dämmerung ignorieren, die Finsternis, die sich über ihre Welt legt, die aus den Schatten unter den Bäumen hervorbricht? Ist es nicht grauenhaft, dass die ihnen so vertraute Welt bereits in die Brüche geht, und trotzdem bekommen sie weiter Kinder. Schauen sie denn keine Nachrichten?
     
    Auf den Bildschirmen im Ivans sind jedenfalls keine Nachrichten zu sehen. Für diesen Teil des Vellum, der sich als Südstaaten der USA ausgibt, ist diese Art von Bar und Grillhaus an einem Sportplatz typisch. Die Staaten. O ja, die Lage der Nation ist prekär, aber noch immer ist Unwissenheit ein Segen und auf dem Land herrschen Gottesfurcht und Patriotismus, Enthaltsamkeit und Vertrauen. Autos werden nicht abgeschlossen, jedem wird ein freundliches Lächeln geschenkt, sogar dem sonderbaren Mädchen in der Motorradjacke mit den tiefschwarz geschminkten Augen. Dabei könnte sie der ganzen Lebensweise dieser Leute nicht fremder sein. Die Kellnerin, die sie an einen

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