Vellum: Roman (German Edition)
gedrängten Reihen der Männer in nachtschwarzen Uniformen, als wolle er die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens unterstreichen.
»Bitte«, sagt Seamus mit der leisesten Andeutung von Spott in der Stimme. »Beruhigen wir uns. Wie heißt es doch so schön — die Vergangenheit ist vorbei. Das war gestern, und wir sollten über das Heute nachdenken.«
»Aber wir sollten auch nicht einfach nur über unsere eigene Not hier und heute Tränen vergießen. Unser Mitgefühl gilt jedem, der unter dem Joch der Imperialisten leidet. In Schottland. Oder in Irland. Oder in England. Auf der ganzen Welt sterben unsere Brüder, heute hier, morgen dort. Hört, was ich zu ihnen sage, wenn sie uns Volksverhetzung vorwerfen, wenn sie uns sagen, wir hätten keine Chance: Ich sage, sie haben keine Ahnung, aus welchem Stoff wir gemacht sind, Brüder! Wir sind Männer aus Stahl und Männer aus Feuer. Ich sage, die Hämmer der Red Clyde werden bis an die Grenzen des Imperiums zu hören sein!«
Aber er hört bereits das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster — die Kavallerie geht zum Angriff über, die Schlagstöcke sausen durch die Luft und verwandeln eine friedliche Protestkundgebung in einen blutigen Aufruhr. Freitag, der 31. Januar 1919, auf dem George Square, in der zweiten Hauptstadt des Imperiums.
Errata
Schwarze Tränen
Metatron schreitet unbeschadet durch die Reihen der Aufrührer. Er geht den Plünderern aus dem Weg, steigt über die Splitter eines Schaufensters, über zerbrochenes Glas und Schaufensterpuppen, die wie verstümmelte Leichen daliegen. Irgendwo hinter ihm explodiert ein Auto, aber er bemerkt es kaum, als er das Einkaufszentrum durch die zerschmetterten Türen betritt. Eine Frau mit nacktem Oberkörper kommt ihm mit erhobenem Baseballschläger entgegengerannt. Über ihre Brüste ist mit rotem Lippenstift ›Fick mich, fick mich, fick mich‹ hingeschmiert. Er weicht ihr aus, packt sie am Arm und reißt sie herum. Legt ihr die Lippen ans Ohr und haucht einen Zauber hinein. Sie bleibt wie angewurzelt stehen, lässt den Schläger fallen und sinkt zu Boden. Von der Erinnerung an ein Kind überwältigt, das sie nie hatte, bricht sie in Tränen aus – vor Kummer, den er ihr gerade eingegeben hat. Ihre Tränen sind schwarz, aber es ist nicht die Wimperntusche, die sie färben, das weiß er.
Es ist schwer. Er ist kein Mörder, kein grausamer Mensch, aber die Dinge stehen nicht gut. Die Dinge stehen überhaupt nicht gut.
Er bewegt kurz die Finger, und sein Handschuh ruft Hendersons laufenden Bericht über Finnan auf. Während er weitergeht, scrollen Buchstaben über seine Linsen. Um ihn herum nimmt die amerikanische Apokalypse ihren Lauf – ganz normale Menschen laufen Amok, überall liegen Autos auf dem Kopf, die Becken der Springbrunnen sind voller Pisse und Bierdosen, und der schwarze Staub der Bitläuse mischt sich unter den Rauch der ausgebrannten Gebäude. Verdammte Scheiße, immerhin eine Sache verläuft nach Plan: Der Ire gleitet weiter und weiter in die Vergangenheit hinein. Metatrons Bitläuse kriechen ihm in Kopf und Seele, zerren tief verborgene Erinnerungen ans Tageslicht und weben daraus die Geschichte, die Metatron auf ihm – in ihm – schreiben will. Aber es ist lange her, dass er jemanden mit einer solchen Konsequenz an sich gebunden, eine Seele so tiefgreifend neu gestaltet hat, um an einen Archetyp heranzukommen. Metatron ist kein grausamer Mensch, doch ihm bleibt keine Wahl. Die Welt steht in Flammen, und Finnan weiß mit Sicherheit, wer oder was all diese Feuersbrünste legt. Nun, Prometheus wird es jedenfalls wissen.
Es ist eine alte Geschichte, vielleicht die älteste überhaupt, und sie handelt vom Dieb des Feuers. Metatron kann sich noch aus seiner Kindheit an sie erinnern. Der Titan, der an Zeus’ Seite kämpfte, um den bösen Kronos zu stürzen, und dann den König der Götter verriet, um das Feuer zu stehlen und es den Menschen zu geben. Der Engel, der die himmlischen Heerscharen anführte, bevor er sich gegen seinen Herrn wandte und der Menschheit – in einem anderen Mythos – die Frucht zu bringen, die ihren Untergang bedeutete: das Wissen um Gut und Böse. Die betrügerische Krähe, die das Feuer aus der Höhle der Stammesältesten stahl und für dieses Verbrechen in den Flammen schmorte, bis sie schwarz war. Unter den Unkin ist es eine Legende über die Sprache; der erste Schamane stahl sie aus einer altsteinzeitlichen Höhle, in der flackernder
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