Vellum: Roman (German Edition)
Feuerschein zuckende Schatten an die bemalten Wände warf, und er wurde der erste Unkin, der erste Mensch, der in das Vellum hinaustrat und nicht wusste, ob er fiel oder flog, während das ›Wort‹ in ihm nachhallte, ihn veränderte, ihn zu einem Unkin machte. Die genauen Umstände waren in Vergessenheit geraten, lange bevor Metatron in einem kleinen Flusstal nördlich der Zagreusberge als Enki geboren wurde, aber sein Vater hat ihm die Geschichte erzählt, wie sie schon ihm erzählt worden war. Und im Laufe der Jahrtausende seines Lebens war er zu der Überzeugung gelangt, dass sie mehr als nur ein Mythos war. Prometheus ist ein Archetyp, der irgendwo in den Träumen verborgen ist. Es kommt nur darauf an, ihn ans Tageslicht zu bringen.
Er steigt über einen demolierten Fernseher und betritt ein Elektronikgeschäft, dessen Vitrinen geplündert sind. Überall liegen Ausverkaufsschilder herum, die Kasse ist aufgebrochen und umgekippt worden, die Theke mit Kleingeld bedeckt. Hier sind die Bitläuse allgegenwärtig. Er hat das Gefühl, durch eine Rauchwolke zu schreiten, aber der Rauch weicht vor ihm zurück, hält sich von ihm fern, als wüsste er, dass Metatron eine Bedrohung darstellt. Die Bitläuse wollen nicht, dass ihr Schöpfer sie umprogrammiert – so schnell möchten sie ihre neu gewonnene Freiheit nicht aufgeben.
Der Unkin liegt im Hinterzimmer neben einem kleinen Lüftungsgitter, durch das der schwarze Staub hereinströmt, reglos vor der Wand in sich zusammengesunken. Natürlich. Kabelschächte und Luftschächte, Unterführungen und Abwasserkanäle – die Bitläuse wissen diese Verbindungen ebenso gut zu nutzen wie die Unkin die Nebenstraßen und Flughäfen, die Aufzüge und leeren Büros: die Ähnlichkeiten ermöglichen es ihnen, Zeit und Raum übereinanderzulegen. Geographische Nähe spielt keine Rolle, wenn es darum geht, sich durch das Vellum fortzubewegen; auf die morphologische Nähe kommt es an. Auf die Übereinstimmungen.
Der Unkin ist ganz mit dem schwarzen Zeug bedeckt, von Kopf bis Fuß, der verdichtete Schatten eines Mannes. Metatron kniet sich neben ihm nieder, hält ihm eine Hand vor den Mund. Atmet er? Er spürt einen sanften Hauch, immerhin. Hoffentlich können die Ärzte ihn retten. Er bereut, dass er ihn überhaupt losgeschickt hat. Aber verdammt nochmal, er kann nicht alles selber machen! Schließlich sollte der Bursche nur herausfinden, woher das alles kommt, und ihm Bericht erstatten, dann hätten sie ein Team auf den Weg gebracht. Schadensbegrenzung, denkt Metatron, wie bei der Feuerwehr. Das ist alles, was wir inzwischen noch betreiben.
Er murmelt ein Wort, und die Wand hinter dem Mann schimmert schwach, verschwimmt, als würde er sie aus den Augenwinkeln betrachten. Als sie wieder deutlich sichtbar wird, ist das Lüftungsgitter verschwunden – es hat nie existiert. Zurück bleibt nur eine leere weiße Gipswand. Die Bitläuse wirbeln in wildem Chaos durcheinander. Wer oder was auch immer dahintergesteckt haben mochte – jetzt sind sie von ihrer Befehlszentrale abgeschnitten. Metatron zieht seinen Handschuh aus und legt dem Mann die Hand auf die Stirn. Unter der Haut kann er die mechanistischen kleinen Gehirne der Kreaturen spüren, die dort angsterfüllt und verwirrt plappern. Von was sie auch besessen gewesen sein mögen, es ist jetzt fort und er spürt ihre Verlassenheit. Ganz langsam treiben sie über das Gesicht des Mannes hinweg auf Metatrons Hand zu, kriechen darüber hinweg, und flüsternd lockt er sie wieder zur Herde zurück.
Draußen fallen Schüsse.
Geister und Gespenster
In den Straßen herrscht sommerliches Gedränge. Kauflustige und Spaziergänger genießen den Samstag in der Stadt, plaudern mit Freunden in Cafés und Bars, stöbern in Plattenläden oder bleiben stehen und lauschen den Straßenmusikern. Vor den Restaurants preisen Sims die Gerichte an – mal ein riesiger Zeichentrickstier in Baseballklamotten, dann ein lachender Clown. Lauthals locken sie mit Sonderangeboten, Familienmenüs und Fanartikeln zu Fernsehserien, Disneyfilmen und Simwarespielen. Hier und dort drischt ein alter Prediger seine Phrasen, eine Papptafel umgehängt, die vor dem Ende der Welt warnt, und belästigt oder belustigt die Passanten mit großartigen Theorien über Verschwörungen innerhalb der UNO, mit biblischen Vorhersagen über Echsenmenschen, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Aber diese Leute werden heute ebenso wenig ernst genommen wie vor
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