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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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nicht.«
    »Das wird sich noch zeigen«, hatte er gesagt, während sich seine Finger um ihren Hals schlossen.
     
    Nein. Phreedom sind diese Methoden nicht fremd, aber ihre Vorgehensweise ist eher instinktiv, intuitiv. Unkin hinterlassen Spuren in den Zeiten, die sie durchqueren, wie auch in Räumen und Dingen, und Phreedom folgt einer Fährte aus gebrochenen Minuten und gekrümmten Stunden, die für sie so ... lesbar ist wie Toms Unterschrift in dem Gästebuch, wenn auch ein wenig ... verworren. Die Fährte ihres Bruders liest sich wie die eines Flüchtlings einer Sträflingskolonne, der durchs Unterholz bricht, Flüsse durchwatet, kehrtmacht und seinen eigenen Weg kreuzt, ein Auto stiehlt, mit einem Landstreicher die Kleider tauscht und als blinder Passagier in einem Güterzug in eine völlig andere Richtung fährt – der alles versucht, wirklich alles, damit die Bluthunde seine Fährte verlieren. Phreedom weiß, dass man manche Hunde einfach nicht abschütteln kann. Sie weiß, dass sie ihren Bruder finden muss, bevor sie ihn finden. Falsch. Sie weiß, dass sie ihren Bruder finden muss, bevor sie ihn fanden.
     
     
    Dreck unter einem Fingernagel
     
    Als sie durch das zweite Tor trat, wurden ihr die Perlen aus Lapislazuli vom Hals genommen. Und erneut fragte Inanna: Was hat das zu bedeuten?
    »Schweig, Inanna«, erhielt sie von Neti zur Antwort, »die Bräuche der Stadt der Toten sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
    Klick. Der Quergriff der Tür zum Treppenhaus entriegelt sich, als sie ihn nach unten drückt, und sie tritt an den Automaten und der Eismaschine vorbei auf den Treppenabsatz, geht die Treppe hinunter dem Ausgang entgegen.
     
    »Ich habe einen Weg gefunden«, sagt er. »So etwas wie ein Hintertürchen, ein Tor aus der Wirklichkeit hinaus ... In Ash –«
    Sie schneidet ihm das Wort ab, verschließt ihm mit den Fingern die Lippen und schüttelt den Kopf.
    Sie sitzen in einem Rasthaus in einer Nische – das war vor ungefähr einem Jahr –, trinken ihr Bier und sehen einander über den Tisch hinweg an. Ihre Motorräder stehen draußen und bald werden sie beide hinausgehen, sich ein letztes Mal umarmen, bevor sie die Motoren aufheulen lassen und in unterschiedliche Richtungen davonfahren. Sie hat die letzten beiden Jahre damit zugebracht, nach ihm zu suchen, und sie betet, dass er nicht weiß, was sie weiß, dass er nicht ist wie sie, wie Finnan. Aber sie kann es in seinen Augen sehen, in der Angst und dem Zorn. Und er zeigt ihr sein Mal, auf seiner Brust, unter seinem Hemd, direkt über seinem Herzen. Die meisten Leute sähen nur ebenmäßige Haut, die Perlen und den Medizinbeutel, das Silberkreuz und die Hundemarken. Sie dagegen hat seine Prägung gesehen, seinen geheimen Namen, in Licht geschrieben und in der Schrift der Unkin, wie eine leuchtende Tätowierung. Genauso gut hätte er einen Heiligenschein haben können oder Hörner.
    »Verrate es mir nicht«, sagt sie. »Es ist zu gefährlich, wenn ich es weiß.«
    Und jetzt will sie nur noch, dass die Welt so ist, wie sie in ihrer Kindheit war, bevor die schlichte Oberfläche der Welt, die ihnen vertraut war, abgelöst und all das Fleisch und die Knochen ihrer Andersartigkeit enthüllt wurde – die sich windenden Sehnen der Pfade, die sich aus Zeit und Raum emporschlängeln, die sich zwischen den Jahrhunderten erstrecken; der weiße Knochenbau der Ewigkeit, von Kreaturen, die aus der gewöhnlichen Welt herausgetreten waren, lange bevor Phreedom oder Thomas geboren wurden, miteinander verbunden, gegliedert, neu zusammengefügt. Zu solchen Wesen waren sie auch geworden, ohne es überhaupt zu wissen, und deswegen waren sie zu dieser wahnwitzigen Lebensweise verdammt. Was machst du, wenn das Ende der Welt bevorsteht und du ein Engel bist, der nicht kämpfen will? Wohin gehst du?
    »In das Vellum«, sagt er.
     
    Das Vellum. Als wäre es besser zu begreifen, weniger verrückt, wenn man ihm einen Namen gibt. Eine Welt jenseits der Welt – oder danach, dahinter, innen, außen – diese Vorstellungen treffen es verdammt noch mal nicht. Wo ist das Vellum? Außerhalb des gewöhnlichen Kosmos, wie im Altertum geglaubt wurde, in weit größerer Entfernung, als sich die Menschen das damals mit ihrer Einteilung des Himmels vorstellen konnten – eine Einteilung, die hinter den Realitäten der Galaxien und Ballungen von Himmelskörpern um ein Vielfaches zurückblieb? Oder im Dreck unter einem Fingernagel verborgen? Woher kommen

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