Vellum: Roman (German Edition)
stehen zwei Männer in schwarzen Anzügen und mit verschränkten Armen, glupschäugig mit ihren Sonnenbrillen, winken denjenigen zu sich herüber, der dort steht, wo sie sich gerade befindet, ihren Bruder Thomas. All das überlagert ihr Gesichtsfeld wie eine simulierte Welt auf ihren Linsen, aber sie weiß, dass sie es hier nicht mit einer elektronischen Erscheinung zu tun hat. Diese Scheißkerle kennt sie; das sind ihre persönlichen Dämonen, diese Engel des Todes, gedungene Götter. Verdammte Unkin. Die erkennt sie schon auf eine Meile Entfernung; wenn noch ein Monat sie von ihr trennt.
Die Vision dauert nur einen Augenblick an, aber das genügt, um ihr zu folgen.
Asheville, denkt sie, als sie an einem weiteren alten VW Käfer voller pazifistischer Aufkleber vorbeifährt. Wohl eher Haight-Asheville.
Es ist sonderbar. Es entspricht so gar nicht dem, was sie erwartet hat, nachdem sie tagelang an Ortschaften mit gehissten Fahnen vorbeigekommen ist, an Motels, auf deren Schilder WIR UNTERSTÜTZEN UNSERE TRUPPEN stand statt ZIMMER FREI oder KEIN ZIMMER FREI; nachdem sie bei den Weckradios in ihren Zimmern die Frequenzen abgesucht und nur Country und Western gefunden hat, Evangelisten und klassischen Rock. Oder vielleicht hätte sie damit rechnen sollen, denn wenn all die kleinen Ortschaften noch immer in den 1950ern festsaßen, dann waren die vielen Jim und Janis und Jimi ein deutliches Zeichen dafür, dass die große Stadt bekifft und auf dem Trip im Dunstschleier des Jahres 1969 verharrte. Ach ja, der Krieg findet im Mittleren Osten statt und nicht in Südostasien, die Rednecks reden jetzt von Sandniggern und Wickelköpfen statt von Schlitzaugen; sieht trotzdem so aus, als würde sich nie etwas ändern.
Eine Studentenstadt, vermutet sie, und diese vier Häuserblöcke in der Mitte sind das kleine Künstlerviertel, das Ghetto der Intellektuellen, überall Plattenläden und Cafés, Bars und Bistros. Ein britischer Doppeldeckerbus steht in einem Biergarten, die Fenster und Sitze sind entfernt und durch Tische und Stühle ersetzt worden, alles äußerst retro, europäisch und schrullig. Sie fährt im Schritttempo an etwas vorbei, das wie eine Autowerkstatt aussieht, himmelblau gestrichen und mit bunten Blumen und Regenbögen bemalt – eine verdammte Kommune oder Kooperative oder dergleichen. Dort drüben läuft ein Junge in einem Che-Guevara-T-Shirt, ein Graffito schreit SCHEISS AUF DEN ALMO, DENKT AN GUANTANAMO. Teufel auch – kein Wunder, dass es Tom hierher verschlagen hat, denkt sie, moderner Hippie, der er ist. Oder war.
Sie biegt in die College Street ein, stellt das Motorrad vor einer Bank ab, erkundet die Gegend zu Fuß, orientiert sich mit einer Art sechstem Sinn, als spiele sie ein Spiel aus ihrer Kindheit, als lache ihr Bruder sie aus. Kalt, immer kälter. Jetzt wieder wärmer.
Zwischen den Wohnwagen von Slab City haben sie oft Verstecken gespielt. Der eine kroch in ein ausgebranntes Auto oder in eine Öltonne, über seine Brille in das Gesichtsfeld der anderen eingeklinkt – das war noch, bevor die ersten Linsen auf den Markt kamen –, und lotste sie mit per Funk in ihre Knopfhörer geflüsterten Hinweisen und Spötteleien durch das Gelände. Als wären sie Wärme suchende Raketen mit einer Kamera in der Spitze, direkt aus den CNN-Berichten vom Krieg in Syrien.
»Ah, allmählich wirst du wirklich warm«, sagte er dann. »Heißer. Jetzt brennst du. Rotglühend. Weißglühend.«
Der Widerhall eines anderen Augenblicks
Verderben. Dieses Mal ist das Auto wirklich, es steht an der College Street, der Besitzer – ein Kerl in Khakishorts – knallt die Tür zu und sichert die Zentralverriegelung mit dem kleinen schwarzen elektronischen Schlüssel, den er auf den Wagen richtet. Um sie herum herrscht reges Treiben und ihr wird schwindelig. Man könnte es ein Déjà-vu-Erlebnis nennen, doch sie hat nicht das Gefühl, genau in diesem Augenblick schon einmal hier gewesen zu sein, vielmehr weiß sie, das jemand anderes schon einmal hier war, und zwar ihr Bruder. Wie zuvor verspürt sie diese starke Beklommenheit, als stünde sie genau dort, wo ihr Bruder stand. Und wie zuvor beobachtet sie aus den Augenwinkeln zwei Männer in schwarzen Anzügen und mit dunklen Sonnenbrillen; der eine winkt ihren Bruder zu sich herüber, eine langsame Bewegung mit gekrümmtem Finger. Komm her.
Sie muss sich zusammenreißen, um nicht wegzurennen, obwohl sie weiß, dass diese Unkin mit ihrer
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