Vellum: Roman (German Edition)
die Götter? Wohin gehen die Menschen, wenn sie sterben? Wo sind die Engel in Rudeln unterwegs, aus Angst, von ihren eigenen Schatten abgeschlachtet zu werden, wo kauern sie in Himmelsburgen, aus Angst vor einer Leere, die zu bezwingen sie einen allerhöchsten Scheißgott benötigen? Phreedom hat einen Blick darauf erhascht, nur einmal, eine mit Vogelschädeln übersäte Ebene soweit das Auge reicht, eine Vision – eine Drohung –, an jenem Tag, an dem sie selbst zu einem dieser nichtmenschlichen Wesen wurde. Es war als Warnung gedacht, für ein kleines Mädchen, das bereits zu viel wusste, eine Botschaft: Das ist es, worauf du dich einlässt. So trostlos und unermesslich die Vision auch gewesen war – sie wusste, dass sie nur einen winzigen Zipfel des unendlichen Vellum gesehen hatte.
Sie sieht ihn an, ihren Bruder, Thomas. Er hat braune Augen, grüngefleckt, und ihre sind grün und braungefleckt; seine Haare sind eher rotbraun, die ihren rostrot mit kupferroten Strähnen. Sie sind beide eher der herbstliche Typ, wenn man etwas auf diesen Internetscheiß der europäischen Modenazis gibt, aber während er durch die ersten Herbstblätter stolpert, tanzt sie um ein Halloween-Freudenfeuer.
»Ich werde in das Vellum gehen«, sagt Thomas. »Der Konvent wird mich nicht finden. Finnan –«
»Scheiß auf Finnan«, knurrt sie. »Wenn dieser Scheißkerl nicht wäre, hätten wir nie ...«
Nie was? Nie die Unendlichkeit berührt? Nie den Cant vernommen, der in jeder Faser ihrer verdammten Körper widerhallt? Nie die Sprache gelernt, nie die Prägungen entschlüsselt, die er der Welt und ihnen aufgezwungen hat – ihre geheimen Namen? Hätten wir nie den Unkin angehört?
Doch sie weiß, dass das nicht stimmt, das ein Teil von ihr unwiderstehlich von diesem Verrückten angezogen wurde, der in seiner Schrottburg in einem Trailer-Park weit draußen mitten in der Wüste lebte. Dorthin kamen sie jeden Winter, Jahr um Jahr, mit Mutter und Vater, eine Familie von Schneevögeln vom halbnomadischen Stamm der Winnebago. Er war es nicht, der sie aufstöberte. Er war nicht zu ihnen gekommen, um ihnen ewiges Leben zu versprechen. Sie waren zu ihm gegangen, erst ihr Bruder und dann sie, denn sie wussten einfach, dass er Wege kannte, die Geheimnisse zu entziffern, die in der Welt um sie herum verborgen waren. Er berührte den trockenen Wind wie ein Blinder, der ein Gesicht abtastet. Und wie er den Kopf drehte, um den emporwirbelnden Zigarettenrauch zu betrachten! Wenn er sie ihnen nicht gezeigt hätte – ihnen beiden –, die Welt jenseits der Welt, dann hätte es jemand anderer getan, an einem anderen Ort, in einer andern Zeit.
Trotzdem, sie kann nicht anders – ein wenig hasst sie ihn für die teuflischen Mächte, die jetzt hinter ihnen beiden her sind, hinter ihrem Bruder und ihr. Oder besser, die himmlischen Heerscharen.
Mögen die Engel mit dir sein
Am dritten Tor wird ihr die doppelt geschlungene Perlenschnur von den Brüsten genommen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Inanna, doch erneut hieß es: »Schweig, Inanna, die Bräuche der Unterwelt sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
Knarr.
»Danke.« Der alte Mann lächelt, als er an ihr vorbei durch die Tür tritt, die sie ihm aufhält, und sie nickt – keine Ursache – und geht hinaus auf den Parkplatz.
»Mögen die Engel mit dir sein«, ruft er ihr hinterher, irgendein verrückter kalifornischer Segen, völlig unangebracht.
Sie schwingt ihr Bein über das Motorrad.
Die meisten Menschen irren sich. Sie glauben, dass die Unkin – die sich in ihren Mythen und Legenden mal Götter, mal Engel nennen –, dass diese Geschöpfe über die Ewigkeit herrschen wie über ein Reich, das ihnen zusteht. Aber die Ewigkeit, das Vellum, ist wie ... der Stoff der Wirklichkeit, die leere Seite, auf der alles geschrieben steht, auf der alles geschrieben stehen könnte. Das Vellum birgt nicht die absolute Gewissheit irgendeines himmlischen Stadtstaates; nein, es ist die ungebändigte Wildnis der Ungewissheit, der Möglichkeit, des verdammten Urchaos an sich; und dieses Reich der Engel, von dem sie träumen, ist nur eine Kolonie von Siedlern, die versuchen, das Vellum zu zähmen, es ihren verrückten puritanischen Idealen anzupassen – eine Stadt der Mauern und Zäune, des Fanatismus, des Hasses und der Angst, die sich den Unwettern und den seltsamen Eingeborenen widersetzt und die ihre Kavallerie mit Schwertern und Gewehren
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