Vellum: Roman (German Edition)
ausreiten lässt, um jeden bemalten Wilden und jede nackte Squaw niederzumetzeln, die ihre rechtschaffenen Gesetze über Sünde und Reinheit nicht annehmen wollen. Engel und Dämonen. Oder der Konvent und die Auserwählten, wie sie sich gerne nennen. Für die Engel ist selbst die Ewigkeit nur eine weitere Hölle feindlicher Rothäute, die gesäubert und wieder hergerichtet werden muss, New Jerusalem ... ihre Neue Welt. Phreedom fragt sich, ob nicht bald Sklavenschiffe tote Sünder westwärts bringen, damit sie sich in den Fegefeuern der Plantagen plagen.
Als sie ihren Bruder in der Raststätte über den Tisch hinweg ansieht, sieht sie ihn plötzlich in einer Bürgerkriegsuniform vor sich, alle Tressen sind abgerissen und er ist mit grauem Staub bedeckt, sodass sich nicht sagen lässt, welcher Seite er angehört – oder angehörte, bevor er davonlief. Sie blinzelt, und er sieht wieder normal aus. Das ist so eine Sache mit der Ewigkeit. Kein gottverdammter Unterschied mehr zwischen Ort und Zeit.
»Sie werden mich nicht finden«, sagt er.
»Ihr werdet ihn nicht finden«, schreit sie, und sie windet sich, knurrt und flucht, schluchzt, spuckt Blut und Tränen, als einer der verdammten Unkin ihr die Arme auf den Rücken dreht. Schmerz durchzuckt ihre ausgekugelten Schultern. Der andere Unkin packt sie an den Haaren, reißt ihr den Kopf in den Nacken und schlägt ihr die Faust ins Gesicht, gegen das Kinn, wieder und wieder und wieder, bis sie nur noch ein Stöhnen zustande bringt. Ich bring euch um, denkt sie. Ich bring euch alle um.
Sie spürt, wie seine Gedanken die ihren streifen, ein Flüstern in ihrem Kopf: Wo ist er? Noch immer brennt die Zigarette im Aschenbecher auf dem Resopalküchentisch in Finnans längst verlassenem Wohnwagen. Sie hätte nicht hierher zurückkommen dürfen. Der Rauch kringelt sich aufwärts, in aller Gelassenheit; die Zigarette besteht fast nur noch aus Asche.
Er wendet sich kurz dem Tisch zu und blickt ihr dann wieder ins Gesicht.
»Asche?«, sagt er. »Was denkst du da gerade, Süße?«
Sie betrachtet die Zigarette, starrt sie an, die Asche, die Asche, nichts anderes, nicht die ausgesprochene Silbe eines abgeschnittenen Wortes. Diesen Scheißkerlen wird sie nichts verraten.
»Fickt euch doch selbst«, sagt sie, und er schlägt sie erneut.
»Wir werden ihn finden«, flüstert der, der ihre Arme festhält, ihr ins Ohr. »Du kannst es uns leicht machen, du kannst es dir leicht machen, aber finden werden wir ihn so oder so. Bitte.«
Guter Bulle, böser Bulle. Carter und Pechorin, so haben sie sich vorgestellt. Der goldene Junge und Graf Dracula, dachte sie mit einem spöttischen Grinsen und nahm sie nicht weiter ernst, bis beide ihre Sonnenbrillen abnahmen und sie sah, wie leer ihre Augen waren.
Fick dich. Fick dich doch, denkt sie. Ich bring euch um. Und ihr werdet ihn nicht finden.
Die Schläge hören auf. Sie kann nichts mehr sehen vor lauter Blut und wegen der furchtbaren, nicht nachlassenden Schmerzen, aber sie spürt jetzt, wie er sie betatscht, an ihrer Jeans zerrt, ihr T-Shirt zerreißt. Seit sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hat, sind sechs Monate vergangen, aber der Duft der Erinnerung haftet noch stark an ihr; er hat die beiden zu ihr geführt auf ihrer Jagd nach ihm. Sie bereiten sich auf die Apokalypse vor. Die meisten Unkin haben sich bereits für die ein oder andere Seite entschieden; nur hier und dort ist es irgendwelchen Außenseitern – in der tiefsten Provinz geboren und immer unterwegs – gelungen, den Werbern zu entgehen. Gut möglich, dass nur noch sie frei sind: sie, Finnan und ihr Bruder. Doch für sich kann sie nicht mehr die Hand ins Feuer legen.
Ich bring euch alle um.
Sie spürt, wie sich seine Hand in ihre Jeans schiebt; sie fällt in sich selbst hinein, die einzige Möglichkeit, der Brutalität von Engeln zu entkommen. Er fängt an zu ächzen, seine Finger drängen weiter, immer weiter.
Ihr werdet ihn nicht finden.
Aber ich.
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Als sie durch das vierte Tor trat, wurde ihr das Brustgehänge abgenommen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Inanna.
»Schweig, Inanna«, erhielt sie zur Antwort. »Die Bräuche der Stadt der Toten sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
Sie erhascht einen kurzen Blick auf die Vergangenheit oder die Zukunft – ein Widerhall, von jenseits der Wirklichkeit, jenseits der Gegenwart ... von jenseits der Straße: eine Autotür schlägt dumpf ins Schloss, und da
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