Vellum: Roman (German Edition)
seiner ungezügelten Begierde hingibt.
»Jetzt stehe ich hier vor euch«, sagt Anna, »von scharfen Zungen von Land zu Land getrieben, von Worten, die wie Nadeln stechen.«
Im Saal herrscht Stille. Seamus sieht sich um und bemerkt hier und dort Zuhörer, die sich ganz offenbar unwohl fühlen. Sie mögen Sozialisten sein, sie mögen an den Kampf der Arbeiterklasse glauben und an die verwandten Seelen der anderen Unterdrückten auf der Welt — der Iren, der Neger Amerikas — und an das Frauenstimmrecht, ganz bestimmt. Aber trotzdem, alles hat seine Grenzen. Ein Bursche muss seinen Samen aussäen, so sagt man, aber das Mädchen, dem er ihn einpflanzt, ist für immer entehrt. Trotz allem sind das Männer, die dafür sind, dass Frauen, nun ja, eigentlich zur Wahlurne gehen sollten, aber ihr Platz ist doch am Herd, nicht wahr, und es sind immer Frauen, die ihre Missbilligung über das dumme Mädel äußern, das ein paar Häuser weiter wohnt und sich von ihrem Kerl einen Balg hat andrehen lassen. Aber im Saal herrscht Stille. Schließlich ist das alles nicht so einfach, wenn man einem Mädchen, das mit einem kleinen Kind aus dem Haus gejagt wurde und jetzt auf der Straße sitzt, Auge in Auge gegenübersteht.
Ach, bei den Tränen des Herrn Jesus, denkt Seamus. Wie kann ein sanftmütiger Schäfer so jähzornig sein, oder ist es nicht Er, der über jeden unserer Schritte wacht, tot wie Er ist? Die Bitläuse flüstern ihm etwas über ›argusäugige Menschheit und Pfauenstolz‹ ins Ohr, und still und leise, von den anderen im Saal unbemerkt, zieht er einen Flachmann aus der Tasche und nimmt einen kleinen Schluck. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie er reagierte, als sie es ihm erzählte, dass sein Verstand bei jedem ihrer Worte verzweifelte Volten schlug, über die Traumströme eines ganzen Jahrhunderts hinweg, wie es schien — was sie hatten und was sie hätten haben können, bevor alles schiefging, vor ihrem beschissenen englischen Offizier, vor seiner Krankheit, damals im Frühling in Lerna.
Frühling in Lerna. Sommer an der Somme. Jetzt ist Herbst, draußen vor der Halle, Herbst in Glasgow, überall leuchten die braunen und roten, orangefarbenen und gelben Blätter in der untergehenden Sonne der Dämmerung.
»Das ... das ist meine Geschichte«, sagt Anna.
»Ach, Seamus, sprich mit mir«, sagte sie, als er den Blick nicht vom Meer abwenden wollte. »Wenn du irgendetwas zu sagen hast, dann sag es. Sprich mit mir. Es ist mir egal, wenn es mir wehtut; ich habe es verdient, Seamus. Aber bitte, sag etwas.«
Sie streckte den Arm aus, und er spürte das weiche Leder ihres Handschuhs auf seinem Handrücken.
»Ich suche keinen Trost, Seamus. Keine hohlen Phrasen, kein falsches Mitleid. Es ist nur ... du hast mich nie angelogen. Du hast überhaupt nie gelogen.«
Er konnte in ihren Augen lesen, was sie hören wollte, er konnte es aus dem heraushören, was sie nicht sagte. Was wird mit mir geschehen, Seamus?
»Lügen sind das Allerschlimmste«, sagte sie.
In seinen schwarzen stecknadelkopfgroßen Pupillen
»Ach nein. O weh, genug.«
Die Luft im Saal scheint zu vibrieren, und Seamus sieht, wie sich Anna auf der Bühne in Luft auflöst und Pankhurst und Maclean ebenfalls, bis nur noch der Samtvorhang hinter ihnen übrig ist, das Spruchband, das die Redner willkommen heißt, und rechts und links die rote Fahne und der Union Jack. Die Zuhörer schimmern, ein Trugbild in der Wüste, die Luft über einer heißen Asphaltstraße im Sommer.
»Nie hätten wir erwartet, eine Geschichte so voller Grausamkeit zu hören«, flüstern die Bitläuse, »von solch hässlichem und unerträglichem Leid.«
Er drängt sich durch die gespenstischen Bilder seiner Erinnerung, bis er die Mitte des Zimmers erreicht hat. Nur noch ein Stuhl steht dort, ein Metallklappstuhl mit einem weißen Salzkreis auf dem Boden darum herum, und als er seine Hand auf die Rückenlehne legt, spürt er beißende Kälte. Sein Atem dampft, wirbelt weiß vor seinen Augen empor. Er setzt sich auf den Stuhl, schließt die Augen.
Deine Liebe, flüstern die Stimmen, ist ein zweischneidiges Schwert. Sie lässt unsere Seelen gefrieren.
Er öffnet die Augen und im Schlachthof ist es klar und sauber. Eine kalte Wirklichkeit. Du liebe Zeit, denkt Finnan. An Anna hat er seit Jahren nicht mehr gedacht, vielleicht sogar seit Jahrzehnten nicht mehr.
Henderson steht im Eingang, die Plastikstreifen schwingen wie die Falten eines Vorhangs hin und her.
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