Vellum: Roman (German Edition)
an seinen Flanken hinunterfließen und die Felswände dunkel aussehen lassen. Schmelzwasser von seinem weißen Gipfel. Er gleicht einem Riesen, der gerade dem Meer entsteigt und dem das Wasser über den breiten Rücken läuft.
»Mach dir meinetwegen keine Gedanken«, sagt sie.
Eine Woche werden sie brauchen, schätzt sie, um den Gipfel zu überwinden. Sie hat die Landkarten konsultiert, aber sie verlässt sich auch auf ihre Erfahrung. Es macht ihr nichts aus; schließlich war sie schon immer gerne in den Bergen, weit oben zwischen den Sternen, wo die Luft so dünn und klar ist. Aber danach werden sie den Weg nach Süden einschlagen, in eine Gegend, die auf den Karten als ›Die Maskara‹ bezeichnet ist. Aus irgendeinem Grund stellt sie sich darunter einen Dschungel vor, in dem es von männerhassenden Amazonen nur so wimmelt. Und dann geht es den Thermidor hinunter nach Psalmydeus. Diese Stadt ist ein heißes Pflaster, an einer zerklüfteten Küste gelegen, wo das Meer seinen wilden Willkommensruf wider die Klippen schmettert, eine Herausforderung an jeden Seemann, der mutig genug ist, es mit dieser sprichwörtlich bösen Stiefmutter der Schiffe aufzunehmen.
»Hältst du es noch immer für eine gute Idee, nach Psalmydeus zu gehen?«, ruft sie Don zu. »Was ist, wenn die Leute dort genauso feindselig sind wie an anderen Orten?«
»Nun denn«, sagt er, »dann werden sie bestimmt froh sein, wenn wir wieder weiterziehen.«
»Ich bin froh, dass wir weitergezogen sind«, sagt sie.
Hinter ihnen erhebt sich der Schimärische Isthmus wie eine Wand, eine Mauer aus roh behauenen Bruchsteinen, dort, wo sich die beiden Landzungen einander entgegenrecken und sich fast berühren — aber eben nur fast. Diese Formation ist nicht natürlichen Ursprungs, eher ein erhöhter Fußweg, der ein Damm sein möchte, aber mit einem schmalen Brückenbogen, der es ermöglicht, von dem großen See dahinter in die Gewässer zu gelangen, auf denen sie jetzt segeln. Ob sie überhaupt ein Isthmus genannt wird, hängt davon ab, wessen Standpunkt man teilt; der kalte See dahinter und das warme Meer, über das sie jetzt hinweggleiten, und die beiden Länder, die sie voneinander trennen wie Vorhänge, die nicht ganz zugezogen sind — von alledem sind auf keiner Karte irgendwelche Grenzen eingezeichnet. Genauso gut könnte das Land von den Gewässern eingeschlossen sein; zwei riesige Inseln oder zwei große Salzwasserseen, die sich in der Mitte berühren wie die Bänder eines Unendlichkeitssymbols oder einer Acht. Auf den Karten sind die Küsten nur als ein großes X eingezeichnet, das die Region in vier Teile gliedert, Wasser im Norden und Süden, Land im Osten und Westen. Während die Muschelschnitzer, von denen sie die Karten bekommen haben, den Namen ›Schimärischer Isthmus‹ verwenden, wird das Gebiet auf den Navigationskarten der Wellenreiter auf ihren kleinen Handelsdampfern — wie derjenige, mit dem sie eben jetzt unterwegs sind — als Straße von Maeostoso bezeichnet, trügerische Untiefen, die nur ein beherzter Seemann zu befahren bereit ist.
Hinter ihnen liegt Phosphorus, die Stadt, die am Isthmus erbaut wurde wie die Ladengeschäfte und Häuser auf einer mittelalterlichen Brücke in Florenz oder London. Auf den Mauern stehen noch immer die Menschen und jubeln ihnen zu, und sie fragt sich, wie lange ihr Ruhm sich halten wird. Noch bevor sie die Stadt verließen, hatte Don ein Kind ein Lied singen hören über den Soldaten und die Prinzessin, die sich aufgemacht hatten, den Anbeginn der Zeit zu finden. Prinzessin, denkt sie, mehr als nur ein wenig spöttisch. Von der kleinen Schlampe Phreedom zur Prinzessin Anaesthesia. Aber diese Leute können sich eine Welt mit einem Ort wie Slab City wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, und in den von Fischweibern bestimmten Kulturen der Muschelschnitzer und Wellenreiter muss wohl jede Frau mit einem unabhängigen Auftreten wie dem ihren eine Prinzessin sein. Don murrt natürlich deswegen — sie halten mich für deinen beschissenen Leibwächter. Und so lächelt sie ihn an, blinzelt ihm zu und sagt: Bist du das denn nicht?
Aber über die Sache mit dem Anbeginn der Zeit wundert sie sich schon — wie dieses Gerücht wohl aufgekommen ist? Inzwischen eilt es ihnen anscheinend voraus, genauso wie die Geschichte ihrer Reise. An manchen Orten kommen sie an und werden wie Helden willkommen geheißen, zu ihren Ehren werden Feste abgehalten. Die Bewohner der Ebene von Europa wünschen Euch auf
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