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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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zu ihm gesagt hat. Erst kommt er nicht darauf, was es gewesen sein könnte, doch dann fällt der Groschen. Phreedom in der Kirche, nachdem sie Thomas nach Asheville gefolgt war, nachdem sie zu Eresch gegangen war, in die Hölle. Zurückgekehrt war sie mit –
    Die Bitläuse krakeln ihm über die Brust, und er schaut sie sich jetzt etwas genauer an, die Muster innerhalb der Muster in dem sich fortlaufend verändernden Chaos. Die schartige offene Wunde sieht aus wie eine Mandelbrot-Menge mit ein paar zusätzlichen Dimensionen.
    Was erhält man, wenn man das Blut der Königin der Toten mit der Tinte des Schreibers Gottes kreuzt, Metatrons Bitläuse mit der Magie in Ereschs kleinen Glasgefäßen? Etwas, denkt Finnan, das einmal lebendig gewesen sein mag, aber vor so langer Zeit, dass es vergessen hat, wie das ist; oder etwas, das nie lebendig war und plötzlich feststellt, dass es denken kann, das versucht, sich in der sonderbaren Welt der Menschen mit ihren Kriegen und Revolutionen zurechtzufinden. Zwischen den Programmprotokollen des Konvents und dem inneren Zwang, unter dem alle Dinge stehen, die den Tod fürchten, hin und her gerissen, haben Enoschs Schöpfungen vielleicht doch so etwas wie Mitgefühl entwickelt. Oder vielleicht kommt das erst noch.
    »Wir hören«, sagen sie.
    »Dann hört gut zu«, erwidert er, »und nehmt euch meine Worte zu Herzen. Ich werde euch erzählen, wo die Reise hingeht.«
    Oder wo die Reise beginnt .
     
     
    Der Anbeginn der Zeit
    Sie wendet sich der aufgehenden Sonne zu. Rosafarben legt sich das frühmorgendliche Licht über dasselbe unkultivierte Land, durch das sie seit ein paar Jahren unterwegs sind, das Land jener Leute, die sich Nomaden der Sense nennen und in Karren mit Weidendächern leben. Die aus der Ferne Pfeile auf sie abschießen. Es ist eine unzivilisierte Gegend, dieser Teil des Vellum, doch deshalb ist hier auch alles wesentlich beständiger als in manch anderer Welt, die sie bereits durchquert haben — hier stehen keine Städte in Flammen, hier gibt es keine geplünderten Geschäfte, keine verstopften Straßen mit Flüchtlingen, hier müssen sie sich nicht schnell in Eingänge drücken, wenn ein Engel über sie hinwegfliegt, die silberfarbenen Flügel weit ausgebreitet, den Zerspalter im Anschlag, um die Menge unter Beschuss zu nehmen.
    »Was ist los?«, fragt Don und zügelt sein Pferd neben ihr. Scheiße, wie sehr sie ihr Motorrad vermisst — Pferde sind so verdammt unbequem. Don dagegen scheint in dieser neuarchaischen Umgebung ganz in seinem Element zu sein.
    »Pass auf«, sagt sie. »Kalifen. Links von uns.«
    Er nimmt den Zerspalter von der Schulter, und sein Blick schweift hinüber zum Horizont. Zu ihrer Rechten fallen die Klippen steil ab, das Meer brandet gegen den Fels. Vor ihnen folgt der schmale Pfad der Landspitze und führt schließlich auf die weite und leere Ebene hinaus, die von der tief stehenden Sonne in warmes Licht getaucht wird. Rosafarbene Streifenwolken liegen wie ein Schleier über allem. Zu ihrer Linken erhebt sich eine Felswand, die von Moos und Gestrüpp bedeckt ist. Hier und da zeigt sich ein einzelner Kalif. Sie hat sie so genannt, weil sie einen seltsamen turbanähnlichen Kopfschmuck und Spitzbärte tragen, aber sie sind weniger weise, als vielmehr ein ziemlich wildes Volk. Technologisch sind sie auf dem Stand der Eisenzeit, und von Gastfreundlichkeit halten sie nicht viel.
    »Sei vorsichtig«, sagt sie.
     
    »Sei vorsichtig«, sagt Don.
    Sie blickt auf den Fluss Hybris hinab, der sich unter ihnen durch die Schlucht schlängelt — ein passender Name, denkt man an den Übermut, dessen es bedarf, will man den Hochwasser führenden Strom auf der fürchterlich schaukelnden und knarrenden Hängebrücke überqueren.
     
    Vorsichtig setzt sie einen Fuß auf eine der Planken, die von der Gischt eines winzigen Wasserfalls irgendwo über ihnen ganz glatt und glitschig sind. Tatsächlich ist das kaum mehr als eine Dusche, eher wie Regenwasser, das vom Dach einer Kathedrale und aus dem Maul eines dämonischen Wasserspeiers schießt; doch es genügt allemal, um das Holz völlig zu durchnässen, sodass sie beide sich vor morschen Planken und glitschigen Algen in Acht nehmen müssen. Das Wasser stürzt in glitzernden Kaskaden abwärts, und sie ist froh, dass sie keine Höhenangst hat. Über ihnen und auf der anderen Seite des Abgrunds ragt der Kegel des Berges grau und weiß in die Höhe. Er ist mit zahlreichen plätschernden Bächen übersät, die

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