Vellum: Roman (German Edition)
immer als verdorben, und dabei verwechseln sie ihre eigene Ästhetik des Abscheus und der Angst mit ethischem Urteilsvermögen. Sie suchen nach Gründen für ihre emotionalen Reaktionen, untermauern ihre moralischen Überzeugungen mit Leidenschaft und setzen sich selbst, unterschwellig oder schonungslos offen, als Instanz der Vernunft. Auf einer Internetseite mit dem Domainnamen www.gotthasstschwuchteln.de findet sich eine Gifanimation, die ein Nazischwein namens Phelps aus einem Zeitungsfoto gebastelt hat: Puck lächelt, während seine Seele auf alle Ewigkeit in den Flammen der Hölle schmort, die — dessen können wir uns sicher sein — weit heißer sind als die Zigaretten, mit denen die beiden Mörder seinen nackten Körper misshandelt, ihn gefoltert haben, während er um sein Leben bettelte.
Und das ist die Wirklichkeit. Das ist die Wahrheit, die Wahrheit des Evangeliums.
Errata
Pan ist tot. Der große Pan ist tot
In Plutarchs De defectu oraculorum wird die Geschichte erzählt, dass zur Regierungszeit des Kaisers Tiberius Passagiere eines Schiffes, das von Italien nach Griechenland segelte, eine Stimme hörten, die von der fernen Insel Paxos zu ihnen herüberdrang und nach dem Steuermann des Schiffes rief: Thamus, Thamus, Thamus. Die Stimme bat ihn, er solle sich, wenn sie an Palodes vorbeisegelten, über die Reling beugen und dreimal rufen:
»Pan ist tot, der große Pan ist tot.«
Und als er das tat, so erzählt die Geschichte weiter, hörte der Seemann ein lautes Wehklagen, nicht nur von einer Stimme, sondern von vielen.
Für die Christen wurde dies sinnbildlich für den Tod aller heidnischen Götter, die gleichzeitig mit einem jungen jüdischen Pazifisten und Anarchisten an einem hölzernen Kreuz gestorben waren, mit Nägeln in den Händen und Dornen um den Kopf. Aber die eigentliche Geschichte gleicht der Stimme von Paxos – schwach und fern ist sie, und vielleicht wurde sie falsch verstanden, falls der Name des Steuermanns, was durchaus möglich ist, von größerer Bedeutung ist, als die Theologen der Kirche annahmen.
»Tammuz, Tammuz, Tammuz, der allmächtige Gott ist tot«, riefen die Eingeweihten, wenn sie das jährliche Mysterium eines weiteren toten und auferstandenen Gottes begingen, eines Gottes des Getreides und der Reben, des Brotes und des Weins.
An einem sehr kalten 7. Oktober des Jahres 1998 kurz nach Mitternacht, in der Gegend von Sherman Hills östlich von Laramie, Wyoming, wurde der einundzwanzigjährige Matthew Shepard, Student der Politikwissenschaft im ersten Semester, an einen Zaun gebunden, geprügelt und mit brennenden Zigaretten misshandelt, nackt ausgezogen, mit einer Pistole bewusstlos geschlagen und – im Glauben, er sei tot – zurückgelassen. Achtzehn Stunden später, um 16.22 Uhr, bemerkte ein Motorradfahrer auf der Snowy Mountain View Road etwas, das er erst für eine Vogelscheuche hielt. Eine weitere Vogelscheuche – eine echte Vogelscheuche – wurde später von Studenten und Ehemaligen der Colorado State University durch die Straße getragen; um ihren Hals baumelte ein Schild mit der Aufschrift ›Ich bin schwul‹, und auf ihrem Rücken standen die Worte ›In den Arsch‹. All das geschah nur wenige Kilometer entfernt vom Poudre Valley Hospital, wo Shepard am 12. Oktober um 12.53 Uhr starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Auf der Internetseite www.godhatesfags.com zählt Pfarrer Fred Phelps die Tage, die Matthew Shepard in der Hölle schmoren wird; darüber ist eine Videoanimation mit seinem Gesicht in den Flammen zu sehen.
Der Apostel Didymos Judas Thomas, berühmter Zweifler der Evangelien, hat zwei seiner Namen allem Anschein nach von Wörtern für Zwilling: das aramäische te’oma und das griechische didymos . Er wird als Doppelgänger der Toten und auferstandener Gott beschrieben, und vielleicht ist er das auch, denn Tammuz – der als Adonis, Sohn der Myhrra, über Phönizien in die griechische Mythologie gelangte, wo er einfach nur als Adon oder Adonai, ›Herr‹, bekannt war – Tammuz steht so dicht hinter dem Christos wie ein Schatten, und sähen wir sein Gesicht in aller Deutlichkeit, entginge uns die Familienähnlichkeit nicht. Doch unser Blick ist von dem gestohlenen Heiligenschein geblendet, dem Sonnenrad des Gottes Halo, und so müssen wir ihn schärfen, uns konzentrieren, an zweitausend Jahren Blut und Wein vorbeispähen, um den einfachen Hirten Tammuz überhaupt zu sehen – Tammuz, der von Soldaten
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