Velten & Marcks - Mordfall Tina Hofer (German Edition)
Januar werden von jedem Artikel nur noch die Überschrift, nach Möglichkeit ein Foto als Eye Catcher und eine Einleitung gratis auf unserer Homepage zu sehen sein. Bei der Formulierung dieses Teasers ist darauf zu achten, dass er einerseits die notwendigen Informationen enthält und andererseits Lust auf mehr macht. Wir möchten damit die Quadratur des Kreises schaffen, nämlich sowohl kostenlos den Basic Content zu kommunizieren als auch unsere Leser gegen Bezahlung hinter die Paywall zu führen.“ Sie machte eine kurze Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken.
Velten musste sich ein Grinsen verkneifen. Obwohl Nina schon seit einigen Monaten nicht mehr als Beraterin arbeitete, hatte sie sich die für diesen Berufsstand offenbar obligatorischen Anglizismen noch nicht abgewöhnen können.
„Abonnenten haben kostenlosen Zugriff auf alle Inhalte“, fuhr sie fort. „Sie bezahlen uns ja nicht für bedrucktes Papier, sondern für Informationen über das Lokalgeschehen sowie einen ausführlichen überregionalen Mantelteil. Ob das Trägermedium print oder online daherkommt, spielt für das Produkt Tageszeitung letztlich keine Rolle. Jeder andere kann über seine Kreditkarte oder die gängigen Online-Bezahlsysteme ein Guthaben beim Kurier kaufen und damit ähnlich wie bei einem Prepaid-Handy Leistungen abrufen. Das Lesen eines Artikels kostet je nach Länge des Beitrags zehn oder fünfzehn Cent.“ Sie schaltete den Beamer aus. „Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“
Die Kollegen klopften auf die Tischplatte. Dieter Kreutzer warte, bis der Beifall abflaute. „Ich muss ihnen allen nicht erklären, dass wir uns auf ein Experiment mit ungewissem Ausgang einlassen. Die spannende Frage wird sein, ob die Menschen bereit sind, für Informationen im Internet zu bezahlen. Viele Experten halten das für unwahrscheinlich. Ich persönlich bin jedoch davon überzeugt, dass unsere Leser es tun werden.“ Er deutete mit einer ausgreifenden Handbewegung in die Runde: „Sie alle liefern jeden Tag hervorragende Arbeit ab, und unsere Kunden werden verstehen, dass Leistung eben nicht umsonst zu haben ist.“ Kreutzer zupfte an seinem Henriquatre-Bärtchen herum. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihm etwas Sorgen bereitete. „Zweifellos werden die Klickzahlen dennoch erst einmal einbrechen, was sich negativ auf die Preise für die Internetbanner auswirken wird, die unsere Werbekunden bei uns schalten. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die Verluste durch die Paywall auf mittlere Sicht ausgleichen können.“
Es gab einige Nachfragen aus dem Kreis der Redakteure, die Kreutzer und Nina ausführlich beantworteten. Velten schloss schließlich die Redaktionskonferenz und die Kollegen gingen zurück in ihre Büros.
Nina blieb noch einen Moment: „Ich habe beim Reden selbst gemerkt, dass ich euch mit meinem Beratersprech traktiert habe. Ich kann nichts dagegen tun, die Anglizismen purzeln mir nur so aus dem Mund. “
„Could be worse. Wir haben dich alle verstanden. Aber wenn es dich beruhigt, können wir deine Vorträge künftig von einem Simultandolmetscher übersetzen lassen.“
Sie fand seinen Vorschlag nur mäßig witzig.
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Für vierzehn Uhr hatte Renate Knab für Velten und Katja einen Termin mit Oberbürgermeister Dubois vereinbart. Dass der Rathauschef so kurzfristig für ein Pressegespräch zur Verfügung stand, war äußerst ungewöhnlich. Etwas später würden sie mit Tina Hofers Mutter sprechen. Die beiden Journalisten gönnten sich statt einer Mittagspause nur ein paar belegte Brötchen vom Metzger um die Ecke. Die Kantine des Pressehauses war vor Kurzem aus Kostengründen dichtgemacht worden. So richtig traurig war darüber keiner der Kollegen, denn die Hausmannskost, die dort aufgetischt worden war, war weder schmackhaft noch ernährungswissenschaftlich ausgewogen. Auf Letzteres hätte Velten allerdings zur Not verzichten können.
Die knappe Zeit bis zu den Terminen war mit Routinearbeiten ausgefüllt. Es kam nur selten vor, dass sich ein Redakteur tagelang ausschließlich mit nur einer Story beschäftigen konnte. Das galt auch für den Lokalchef und sogar dann, wenn er an einer Geschichte arbeitete, bei der es um den Tod einer früheren Kurier -Mitarbeiterin ging. Ein Thema, das kurz vor Weihnachten noch hochgepoppt war, war die Kostenexplosion bei den Sanierungsarbeiten am Schlossplatz im Zentrum der Fußgängerzone. Die Stadtverwaltung und die beiden großen Ratsfraktionen, die
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