Velvet Haven Paradies der Dunkelheit
kommen.
Oh mein Gott, war es denn ihr eigenes Herz, das sie da hörte?
Sie öffnete die Augen wieder und betrachtete ihre zitternden Hände, sah die Narben, die sie anzustarren, sich über sie lustig zu machen schienen; dann legte sich das Gefühl des Schmerzes und Zorns wieder schwer auf sie und zerrte sie in einen tiefen, dunklen Abgrund hinab, vor dem sie sich fürchtete, dem sie jedoch nicht entkommen konnte.
Nein, nicht schon wieder. Was das letzte Mal geschehen war, würde nicht noch einmal passieren. Sie würde es einfach nicht zulassen.
Sie sprang auf und verlor das Gleichgewicht, da sie vergessen hatte, dass sie Stilettos trug. Hart knallte sie gegen die Wand der Klokabine. Doch sie fing sich wieder und schaffte es mit Müh und Not, die Tür zu öffnen, obwohl sie nur ganz verschwommen sah.
»Hey, pass doch auf!«, fuhr eine junge Frau sie an, als Mairi erneut das Gleichgewicht verlor und sie unfreiwillig anrempelte. Eine rote Lippenstiftspur zog sich von den Lippen der Frau über die Wange. Mairi fing im Spiegel ihren Blick auf und erschrak gleich darauf über ihr eigenes Spiegelbild. Sie hätte die Person, die sie von dort aus anstarrte, kaum wiedererkannt, doch es war unverkennbar ihr eigenes Gesicht. Ihre Augen wirkten wild und glasig, ihre Wangen waren totenbleich.
»Tut mir leid«, lallte Mairi und versuchte, ihre Augen scharf zu stellen. »Mir geht es nicht ⦠so gut.«
»Das merkt man«, sagte die Frau schnippisch.
Mairi tastete sich an der Wand entlang, bis sie endlich die Tür fand und nach drauÃen huschte. Der Flur lag finster da. Die Musik war laut, hämmerte, dröhnte in ihrem Kopf. Die Luft roch abgestanden nach verschüttetem Alkohol und Zigarettenrauch. Diese Mischung verschlimmerte ihren Zustand weiter, und immer noch bedrohte sie diese dunkle, gähnende Leere, die sie zu überwältigen drohte.
»Komm zu mir, Mairi. Komm â¦Â«
Ach du Schande, das waren dieselben Worte, die sie das letzte Mal auch schon gehört hatte. Und sie lockten sie, genau wie damals, als sie sie das erste Mal vernommen hatte.
»Komm zur anderen Seite, komm zu mir.«
Nein, das wollte sie jetzt ganz bestimmt nicht tun. Sie wusste genau, was geschehen würde, dort auf der anderen Seite. Sie wusste, wohin das führen konnte, sie würde also nicht dort hingehen. Nicht ein weiteres Mal.
5
S uriel tat so, als interessiere er sich nur für seinen Drink, während er beobachtete, wie Mairi mit Bran um die Ecke verschwand. Er hatte nicht die Absicht gehabt, ihr Angst einzujagen. Er hatte sie doch nur an seine Anwesenheit erinnern wollen; vielleicht war sie aber gerade deshalb davongelaufen.
Er nippte an seinem Drink, lieà den Blick von einem Unsterblichen zum nächsten schweifen, beobachtete alle ihre Bewegungen und fragte sich, aus welchem Grund sie heute Abend wohl ins Velvet Haven gekommen waren. Weshalb dieser Raven hier war, das wusste er genau. Sex. Das war ja das Einzige, was ihn dazu zwang, sich mit den Sterblichen abzugeben. Die Sidhe bevorzugten ihre eigene Welt, und Suriel sah es auch lieber, wenn er dortblieb.
Nach fast einem Jahrhundert kannte Suriel den König von Annwyn gut genug, um ihm zu misstrauen â vor allem in Bezug auf Mairi.
Mairi war etwas Besonderes. Mairi gehörte ihm . Was sie verband, war noch intensiver als das zarte Band zwischen zwei Liebenden. In ihrem zierlichen Menschenkörper trug Mairi MacAuley einen Teil von ihm.
Und dieser Teil hatte ihn heute Nacht gerufen, hatte ihm zugeflüstert, dass er ihr folgen müsse. Zwischen ihnen bestand eine Verbindung, die niemand durchtrennen konnte. Das würde er nicht zulassen. Denn er wusste um ihre Macht. Sie konnte ihm helfen.
Er musste sie finden. Sie beruhigen. Sie vor Annwyn schützen und vor dem, was die Göttin mit ihr vorhatte.
Cailleach hatte ihm schon einmal etwas weggenommen. Sie würde das nicht noch einmal tun.
Entschlossen erhob sich Suriel von seinem Sitzplatz. Er musste Mairi dem Raben wegnehmen.
»Mairi, sag doch was.«
Sie hatte die Augen geöffnet, doch Bran wusste genau, dass sie ihn nicht wahrnahm, wie er da vor ihr stand. Ihr Blick schien leer, ihre braunen Augen verschleiert. Er drückte sich an sie und stützte sie mit seinen Schenkeln, während er ihr Kinn in die Hand nahm und ihren Kopf so drehte, dass er ihr Gesicht in dem schwachen Licht besser betrachten konnte.
Was war geschehen?
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