Venedig sehen und stehlen
der Gruppe gleich einen Tisch zu. »Was darf ich bringen?«
»Die sarde in saor sind die besten der Stadt«, meckerte der Lehrer.
Beat wiegte skeptisch den Kopf. Das kulinarische Angebot sah alles andere als verlockend aus. Unter einer durchsichtigen Plastikglocke trockneten ein paar übrig gebliebene Sandwiches vor sich hin.
Der Laden war trotzdem brechend voll. In einer Ecke stand erhöht ein großer Fernseher, auf dem in Schwarzweiß ein alter Western mit John Wayne lief. John Wayne sprach Italienisch. Einzelne Satzfetzen durchdrangen gelegentlich die enorme Geräuschkulisse. In der anderen Ecke gab es einen kleinen Tabacchi-Tresen mit Zigaretten, ein paar Zeitungen, Postkarten und Briefmarken. Hier bediente Filippos Frau, die einen Damenbart hatte und so klein war, dass sie hinter den Venezia-Postkarten und einem Ständer mit Pfefferminzbonbons kaum zu sehen war. Sie war die Einzige, die mit einer leichten Verrenkung des Kopfes den Western verfolgte. Der rege Betrieb in ihrer Bar und auch Bestellungen ihrer Gäste ließen sie weitgehend unbeeindruckt. Wenn sie den Tresen kurz verließ, wurde sie von ihrer Tochter abgelöst, die schon denselben Ansatz eines Damenbartes hatte.
»Das ist das echte Venedig«, tuschelte Britt Benning Harry zu.
»Tipicamente« , krähte der Heidelehrer.
»Man muss nur ein paar Schritte von der Piazza San Marco weggehen, schon bist du die Touristen los. Und auch die Inseln können einen ganz morbiden Charme haben. Doris, wie hieß noch mal diese umheimliche Insel in der Lagune?«, fragte Britt.
Doris lächelte freundlich und zuckte die Acheln.
»Sacca Sessola«, antwortete stattdessen Beat. »Es ist nicht weiter als der Lido, aber keiner kennt sie. Dort war Anfang des Jahrhunderts ein großes Sanatorium für Cholera- und Tuberkulosekranke. Vor zwanzig Jahren haben sie das dicht gemacht. Seitdem soll das vor sich hin gammeln. Oder?«
»Da zieht es mich aber auch nicht hin.« Britt machte ein Gesicht, als ob ihr grauste. »Harry, du musst wissen, neben der Kunst interessiert sich der Beat auch für Immobilien.«
»Ach was, nein nein«, beruhigte ihr Mann sie.
Die Runde der Kunstfreunde war bester Laune. Nur Selina im Indienhemd zog eine Flappe.Wenigstens hatte sie mittlerweile einen klareren Blick. Sie unterhielt sich auf trägem Schwyzerenglisch mit einem der beiden finnischen Künstler, der mitgekommen war. Der mit der Nazifrisur.
Dann kamen noch zwei Italiener, die im Palazzo Michiel nicht dabei gewesen waren, aber ganz offensichtlich fest zu dieser Runde gehörten. Das heißt, der schöne Roberto und die mindestens ebenso schöne Francesca kamen nicht einfach dazu, sie hatten ihren Auftritt. Küsschen hier, Ciao bella dort. Harry wurde mit den beiden bekannt gemacht.
»Un americano. Eccitante, how exiting« , flötete Roberto, der hundertprozentig schwul war. Das sah Harry auf den ersten Blick.
Er war ein dunkler mediterraner Typ mit langen gewellten Haaren, langen Wimpern und Augenbrauen, die wie geschminkt aussahen.
»Sono Franca« , stellte sich Francesca noch einmal vor.
Harry erkannte sie natürlich sofort wieder. Es war die Frau aus dem Flugzeug vom Sitz gegenüber. Aber sie erinnerte sich umgekehrt offensichtlich nicht an ihn.
»Wie war es in Mailand?«, fragte Doris. »Erfolgreiche Geschäfte?«
»Very successful, Doris« , sagte sie mit betörend italienischem Akzent und einem rollenden R.
Wie schon heute Morgen im Flugzeug kaute sie ungeniert Kaugummi und sah ihm tief in die Augen. Aber vielleicht bildete sich Harry das auch nur ein. Wahrscheinlich lag es an den unglaublich dunklen Augen, die durch den dicken schwarzen Lidstrich, der einen kleinen Schwung über das Lid hinausging, noch dunkler wirkten.
»Harry … Ich darf doch Harry sagen?«, fragte Britt Benning.
»Sicher«, sagte er. »Britt?« Sie zuckte mit den Augenbrauen und klimperte mit den Armreifen.
»Ich muss dich vor unserer Franca warnen«, flüsterte die Zahnarzttochter aus dem »Derrick« verschwörerisch. »Sie killt die Männer.«
»Und das ist kein Witz«, sagte Hans-Dieter, ausnahmsweise mal nicht auf Italienisch.
Franca warf ihm einen Blick zu, der tatsächlich töten konnte. Aber sie sah dabei wirklich umwerfend aus mit den kunstvoll verwehten schwarzen Haaren und der weiten weißen Bluse, die nicht besonders weit zugeknöpft war. Harrys Jetlag war auf einmal wie weggeblasen.
Irgendwie gefiel es ihm in der Gesellschaft dieser gut aussehenden Frauen. Auch Britt sah immer noch
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