Venedig sehen und stehlen
toll aus, obwohl sie ein anderer Jahrgang als Harry war. Flirteten die europäischen Frauen offener als die amerikanischen? Er konnte das eigentlich wirklich nicht beurteilen. Harry war noch nie ein großer Flirter gewesen. Aber in diesem Moment genoss er es.
Hans-Dieter orderte bei Filippo einen Pinot aus dem Veneto.
»Un vino di campagna semplice« , meckerte der Lehrer aus Schneverdingen. »Ganz einfach. Semplicissimo. Aber perfekt. Ich kenne den Besitzer der Fattoria. Alles noch ganz tradizionale. «
»No no, Harry must try un Sprizz« , funkte Francesca resolut dazwischen. »You know Sprizz?« Ihr italienischer Akzent klang wirklich umwerfend. Das Kaugummikauen nahm ihm nichts von seiner Wirkung. Im Gegenteil.
»Specialità tipica veneziana« , verkündete Filippo jovial. »Du musse probieren. Due? Tre? Quanti sprisseti? Bella Britt? Doris, cara mia?«
»Sì Filippo!«, rief Britt Benning. »Was ist mit dir, Doris?«
»Aperol o Campari?«
»Aperol« , sagten Doris und Britt.
»Due Campari« , bestimmte Franca. »Believe me, Harry. Campari is better. «
Während Filippos Tochter die leuchtend roten Drinks brachte, öffnete Filippo mit großer Geste die Flasche.
»Der beste Pinot Grigio kommt aus dem Veneto«, dozierte Hans-Dieter. »Es gibt natürlich auch viel ungenießbare Massenware. Incredibile! «
»Aber auch noch diese kleinen gemütlichen Weingüter«, versuchte es Beat mit schräg gelegtem Kopf vorsichtig dazwischen. Aber Britt fiel ihm gleich ins Wort: »Der Beat hat so eine ganz süße Fattoria im Friaul entdeckt.«
»Ja, ganz schööön«, fand auch Doris.
Britt erklärte Harry, dass Doris einen Band mit Venedig-Gedichten plane und dass Franca Bildhauerin sei. »Beeindruckende Plastiken aus Stein und Metall.«
»I like to work with metal and stones« , sagte Franca. Dabei zeigte sie ihre Hände und spreizte die Finger. Im Gegensatz zu ihrer Frisur und dem penibel gezogenen Lidstrich sahen die Hände tatsächlich nach Arbeit aus. Unter den Nägeln und auf den Handrücken waren überall Spuren von Gips und Dreck. Harry gefiel dieser Kontrast. Er sah sie an und sie erwiderte seinen Blick herausfordernd.
»Sie gefällt sich darin, Michelangelo zu spielen«, spottete Giovanni-Dieter hämisch, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Dir hat das doch auch mal gefallen«, stichelte Britt Benning.
»Borghesucolo« , giftete Franca zurück und kaute demonstrativ ordinär ihren Kaugummi.
»Borghe … Was heißt denn das, Giovanni?«, fragte Doris freundlich lächelnd.
»Ach, uninteressant«, fand Hans-Dieter.
»Na, sag doch mal«, wollte Britt wissen.
»So etwas wie Spießer«, übersetzte Beat Burger vom Italienischen ins Schwyzerdütsch.
»Immer noch besser ein Spießer als eine.« Hans-Dieter zögerte einen Augenblick, aber dann sagte er es doch: »… eine Männermörderin.«
Für einen Moment wurde es ganz still in der Runde.
Aus dem Fernseher kam nur ein italienischer Satz von John Wayne. Harry hielt unweigerlich die Luft an.
»Borghesucolo« , feixte jetzt auch Selina.
Franca lachte kurz, aber laut, mit weit geöffnetem Mund und stieß die Tochter des Lackmillionärs kumpelhaft an. Bei den »Amici dei musei« kam langsam Stimmung auf.
»Ich hab heute ein neues Haiku über den venezianischen Sommer geschrieben«, versuchte Doris die Spannung zu lösen.
»Echt, so ’n Gedicht, das fehlt mir jetzt grad noch«, maulte Selina.
»Selina, bitte!«, sagte Britt Benning streng und hob nachdrücklich die Augenbrauen.
»Ihr langweilt mich mit eurem pseudokünstlerischen Gehabe. Und du ganz besonders, Mama.«
»Also, wirklich«, versuchte auch der Lackmillionär böse zu werden, was ihm gründlich misslang. »Wie redest du mit deiner Mutter. Britt ist eine große Schauspielerin.«
»Mein Gott. Sie hat diese Arzttussen in deutschen TV-Krimis gespielt.«
»Deine Mutter hat mit Roger Moore zusammen gespielt!«
»Wer ist denn Roger …? Wie heißt der?« Auf einmal zeigte das Mädchen Ansätze von Leben. »Franca bearbeitet Steine und schweißt Metall. Sie schafft etwas mit ihren Händen. Franca, bringst du mir das Schweißen bei?«
»Saldare, Schweißen. Sì!«, antwortete Franca mit einem kurzen kehligen Lachen.
Aus Richtung des Fernsehers waren jetzt Schüsse und Pferdegetrappel zu hören, die sich mit dem Kneipenlärm mischten. Aus dem Augenwinkel registrierte Harry, dass sich Francesca und Selina unauffällig etwas in ihre Drinks schütteten, die daraufhin trüb und braun wurden.
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