Venezianische Verlobung
die Vorstellung, dass der Kapitänleutnant die Lösung des Falles mit arroganter Selbstverständlichkeit auf seine Fahne heften würde.
Und natürlich würde es kein Vergnügen sein, der Principessa vom Tod ihres alten Freundes zu berichten. Wie würde sie Calderóns Tod aufnehmen? Mit der üblichen, ihn oft ärgernden Gelassenheit, mit der sie sonst schlechte Botschaften zu empfangen pflegte? Oder würde sie diesmal anders reagieren und ihm die Schuld an Calderóns Schicksal geben? Und womöglich – wider alle Vernunft und allen Augenschein – immer noch daran festhalten, dass Pater Calderón unschuldig war?
Es war kurz vor sechs Uhr abends, als Tron den Salon der Principessa betrat, nachdem ihn die Polizeigondel am Wassertor des Palazzo Balbi-Valier abgesetzt hatte.
Die Principessa stand am Fenster. Sie hatte den Vorhang zurückgeschoben, einen Fensterflügel halb geöffnet und starrte in die graue Dunkelheit hinaus. Die eiskalte Luft, die in den Salon wehte und die Vorhänge in lustloses Flattern versetzte, schien sie nicht zu bemerken. Einen Augenblick lang spiegelte sich ihr Gesicht in der Scheibe und legte sich über die erleuchteten Fenster des Palazzo Barbaro auf der anderen Seite des Canalazzo.
«Was ist passiert?», fragte die Principessa, ohne sich um zudrehen. Ihre Stimme klang ruhig, aber Tron hörte die Angst darunter wie die Flügel eines Vogels flattern.
Er wusste, dass sie jetzt nichts mehr hassen würde als überflüssige Worte. Er sagte: «Calderón hat versucht, Beust zu töten.» Und nach einer kleinen Pause: «Es war Notwehr.»
«Calderón ist tot?»
Die Principessa hatte sich umgedreht und blickte Tron an. Ihre Frage klang sachlich, fast gleichgültig. Tron konnte weder Trauer noch Überraschung auf ihrem Gesicht erkennen. Stattdessen sah er etwas in ihren grünen Augen, das keinen Sinn ergab – falls er es sich nicht nur einbildete: Die Principessa glaubte ihm nicht.
«Er war sofort tot. Beust hat ihn direkt ins Herz getroffen», sagte Tron.
Die Principessa nickte. Ihr Gesicht zeigte noch immer keine Regung, und Tron musste unwillkürlich an das Gespräch denken, das sie vor über einem Jahr an Bord der Erzherzog Sigmund geführt hatten, als Tron ihr mitgeteilt hatte, dass an Bord des Raddampfers ein Mord geschehen war. Damals, an die Reling des Lloyddampfers gelehnt, hatte die Principessa ihn ebenso ungerührt angesehen – bis auf ein kurzes Funkeln in ihren grünen Augen.
«Calderón», setzte er hinzu, «hatte bereits seine Waffe auf ihn angelegt.»
Die Principessa hob die Augenbrauen. «Sodass der Kapitänleutnant leider gezwungen war, sich zu wehren.»
Sie löste sich vom Fenster und ging, ohne Tron anzusehen, zu ihrer Récamiere. Als sie Platz genommen und sich zurückgelehnt hatte, sagte sie in ihrem makellosen Florentiner Italienisch: «Erzähl mir, was am Rio Madonna dell’Orto passiert ist.» Sie ließ ihr silbernes Zigarettenetui aufschnap pen wie ein Messer. «Ich will jede Einzelheit wissen.»
Tron brauchte für seinen Bericht gute zwanzig Minuten.
Die Principessa unterbrach ihn kein einziges Mal, und Tron hatte den Eindruck, dass sie jedes Wort, das er sagte, penibel auf einem unsichtbaren Notizblock notierte – wie einen Erlass oder ein Urteil, dachte er.
Als er seinen Bericht beendet hatte, schloss die Principessa die Augen und schwieg ein paar Minuten. Dann sagte sie: «Calderóns Revolver war also in seiner rechten Hand.
Habe ich dich richtig verstanden?»
Tron nickte. «Sein Zeigefinger lag sogar noch auf dem Abzug. Bossi hat sich Notizen gemacht. Wir haben leider keine Möglichkeit, Tatortphotos zu machen.»
« Tatortphotos? »
«Vergiss es.»
Ein paar Augenblicke lang starrte die Principessa auf die Glut an der Spitze ihrer Zigarette – so als würde sie das Tatortphoto betrachten, das es nicht gab. Dann fragte sie: «Hat Pater Calderón dir mal seine Hand gegeben?»
«Ein- oder zweimal.»
«Und ist dir nichts aufgefallen?»
Tron dachte kurz nach. «Er hat mir beide Male seine linke Hand gegeben. Weil er einen Rosenkranz in seiner rechten Hand hielt. Wahrscheinlich aus …»Tron ließ den Satz unvollendet.
Doch die Principessa hatte erraten, woran Tron dachte, und schüttelte den Kopf. «Nicht aus religiösen Gründen.»
«Weshalb denn sonst?»
«Weil seine rechte Hand gelähmt war.» Die Principessa lä chelte grimmig. «Pater Calderón konnte mit Mühe den Rosenkranz halten. Er wollte nicht, dass es jemand erfährt.
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