Venezianische Verlobung
was diese verschwommene Erinnerung an eine blonde Frau (ihre Mutter?) und an ein großes, prächtiges Haus zu bedeuten hatte. Angelina Zolli hatte oft versucht, in diesen verborgenen Winkel ihres Bewusstseins einzudringen. Aber sosehr sie sich auch anstrengte – die Erinnerung blieb diffus, unklar, wie eine Spiegelung auf bewegtem Wasser.
Ihre ersten klaren Erinnerungen betrafen das Istituto delle Zitelle, das große Waisenhaus auf der Giudecca-Insel, hinter dessen Mauern sie aufgewachsen war. Sie hatte das Istituto immer verabscheut und war entsprechend glücklich gewesen, als sie zu ihrer ersten Pflegefamilie nach Castello gekommen war. Zu Signora Settembrini, der Schneiderin, und zu Signor Settembrini, dem Taschenspieler, der sein Geld in drittklassigen Varietés verdiente – jedenfalls, bis seine Geschäfte so schlecht gingen, dass er sie auf die Straße schickte. Allerdings hatte er ihr zuvor eine äußerst solide Ausbildung angedeihen lassen, die es ihr ermöglichte, stets mit einer reichen Ernte von Geldbörsen und Taschentü chern nach Hause zu kommen. Die Geschicklichkeit, mit der ihre Finger in fremde Taschen hinein-und wieder he-rausglitten, hatte selbst den anspruchsvollen Settembrini in Erstaunen versetzt. Das war eine schöne Zeit gewesen – die schönste Zeit ihres Lebens. Als Signor Settembrini unter unklaren Umständen das Zeitliche gesegnet und Signora Settembrini wieder zu ihrer Familie nach Bergamo gezogen war, hatte sie zwei Wochen lang geheult.
Danach war sie zu den Zulianis gekommen, dem Küs terehepaar an der Zobenigo. Hier hieß es aufstehen und Feuer machen um sieben, Schule um acht, nachmittags fegen (bei Regenwetter nachwischen ) und dann bis in den Abend hinein tausend Dinge für Signora Nachwischen erledigen – die ließ sich gerne bedienen.
Der einzige Lichtblick war Pater Maurice. Warum er sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr Französisch beizubringen, hatte sie nie begriffen – vielleicht nur, weil ihn die Leichtigkeit fasziniert hatte, mit der sie seine Sprache lernte. Sie brauchte ein Wort nur ein einziges Mal zu hören, um es fest in ihrem Gehirn zu verankern. Die Regeln, nach denen die Wörter verknüpft wurden, verstand sie auf Anhieb.
Und dann war es tröstlich, beim Einschlafen Worte in die Dunkelheit zu flüstern, die alle so klangen, als wären sie aus Seide gewebt. Denn Einschlafen bedeutete, in der feuchten Vorratskammer neben der Küche auf einem Sack zu liegen, der mit fauligem Stroh gefüllt war – im Sommer von Mü cken gepeinigt zu werden und im Winter, wenn ihr Atem auf den Fensterscheiben zu einer dicken Eisschicht gefror, von drei schmutzigen Pferdedecken erdrückt zu werden.
Allerdings hatte das Kabuff den Vorteil, dass sie es unbemerkt durch ein kleines Fensterchen verlassen konnte.
Kein Problem also, auch abends hin und wieder auf Tour zu gehen. Was sie jedoch in Zukunft nie wieder tun würde – das hatte sie sich geschworen. Jedenfalls nicht bei Dunkelheit.
Die letzten zwei Tage waren ein Albtraum für sie gewesen. Das Bild der toten Frau steckte in ihrem Kopf fest wie ein mit Widerhaken versehener Stachel. Noch schlimmer war der Gedanke gewesen, dass der Mann, der sie in jener Nacht verschont hatte, seinen Entschluss inzwischen bereuen könnte und nach ihr suchte. Dabei war das Einzige, woran sie sich noch erinnern konnte, sein Hinken.
Angelina Zolli hob ihr Gesicht zur Jungfrau Maria, die immer noch stumm wie ein Fisch die gegenüberliegende Kapelle anglotzte. Wenn es Kirchen gab, in denen die Jungfrau plötzlich zu reden anfing (Signora Nachwischen hatte das behauptet), dann gehörte Santa Maria Zobenigo garantiert nicht dazu. Angelina Zolli bezweifelte inzwischen, dass die Jungfrau ihr überhaupt zuhörte. Da konnte sie genauso gut mit dem Putzeimer reden.
Sie drehte den Kopf nach links, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Ein Mann hatte die Kirche betreten – selbstverständlich ohne sich vorher die Stiefel abgeputzt zu haben. Das sah sie an der nassen Schmutzspur, die er auf dem Kirchenfußboden hinterließ. Der Bursche spazierte zum Weihwasserbecken, tauchte zwei Finger hinein und bekreuzigte sich lahm. Dann kramte er eine Brieftasche aus seinem Mantel und fischte ein Blatt Papier heraus, das er aufmerksam studierte. Offenbar war er kurzsichtig, denn er hielt das Blatt dicht vor seine Nase. Schließlich klappte er die Brieftasche wieder zu und schob sie in die Tasche seines Gehpelzes zurück. Der Gehpelz
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