Venezianische Verlobung
war nicht mehr der neuste, selbst aus einiger Entfernung war zu erkennen, dass sich Motten über den Pelzkragen hergemacht hatten. Überhaupt sah der Bursche ziemlich schäbig aus. Und seine Brieftasche – solche Kleinigkeiten registrierte sie inzwischen automatisch – ragte zwei Fingerbreit aus der Manteltasche.
Signor Schmutzfink hätte den Mittelgang benutzen können, doch stattdessen machte er einen Schwenk nach links, sodass er sich zwischen ihr, dem Abfalleimer und dem Putzeimer hindurchmanövrieren musste und dicht an ihr vorbeikam.
Es war ein reiner Reflex ihrer rechten Hand, eine fast natürliche Reaktion für jemanden, der gelernt hat, dass in den entscheidenden Sekunden der Verstand in den Fingerspitzen liegt. Ihre Hand schnellte vor, Zeigefinger und Daumen schossen blitzschnell auf die Ecke der Brieftasche herab. Es ging alles so schnell, dass sie erst begriff, was geschehen war, nachdem die Brieftasche bereits unter ihrer Schürze verstaut war.
Hatte er etwas bemerkt? Offenbar nicht, denn Signor Schmutzfink ging einfach weiter. Er hatte schon beinahe die zweite Kapelle an dem linken Seitengang passiert, als er die rechte Hand in seine Manteltasche steckte und sich um drehte. Er runzelte die Stirn: «Kannst du mir sagen, wie ich zu Pater Maurice komme?»
Jesus, das war knapp gewesen. Doch seine Hand wühlte immer noch in seiner rechten Tasche herum, und es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis er seine Brieftasche vermisste – es sei denn, sie brachte es fertig, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Sie sagte, ohne nachzudenken: « Le plus pratique, c’est d’y aller à pied. »
Der Satz knallte wie eine Backsteinmauer auf ihn herab, und seine Augenbrauen schnellten nach oben. Er zog seine rechte Hand aus der Manteltasche und musterte sie, als hätte er ihre Anwesenheit erst jetzt bemerkt. Schließlich sagte er lächelnd: «Ich hatte nicht die Absicht zu schwimmen, Signorina.»
Jetzt war sie erstaunt. «Sie sprechen Französisch?»
Diesmal lachte der Mann. «Ein bisschen.» Er sah sie aufmerksam an. «Wer bist du denn?»
«Ich hab hier sauber gemacht.» Sie zeigte auf den Putzeimer neben sich.
Der Mann warf einen Blick auf die graue Schmiere, die den Kirchenfußboden überzog. «Sieht immer noch ziemlich dreckig aus.»
Das konnte sie ihm nicht durchgehen lassen. «Weil sich niemand die Füße abtritt!», sagte sie und funkelte ihn giftig an. Anschließend hätte sie sich am liebsten auf die Lippen gebissen.
Sie hatte eine Zurückweisung erwartet, die normale Reaktion eines Erwachsenen. Aber der Mann sagte nur: «Es tut mir Leid», und sah tatsächlich ein wenig schuldbewusst aus. Er musterte sie neugierig: «Was machst du, wenn du nicht die Kirche putzt?»
Irgendetwas an seiner Art, diese Frage zu stellen, veran lasste sie dazu, ihm zu antworten. «Vormittags gehe ich zur Schule.»
«Du wohnst hier?»
«Bei den Zulianis. Das sind die Küster.»
«Deine Eltern?»
Sie zuckte die Achseln. «Pflegeeltern.»
«Warst du immer hier?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich war vorher auf der Giudecca.»
«Im Istituto delle Zitelle? »
Sie nickte wieder, und jetzt hoben sich die Augenbrauen des Mannes zum zweiten Mal; nein – sie schossen vor Überraschung regelrecht nach oben. Aber er äußerte sich nicht über das Istituto. Stattdessen räusperte er sich kurz und fragte: «Wer hat dir beigebracht, Französisch zu sprechen?»
«Pater Maurice. Er kommt aus Paris», setzte sie lässig hinzu.
«Das wusste ich nicht. Und wo finde ich ihn?»
«In der Sakristei.» Diesmal lächelte sie ihn an – diesen Unbekannten in seinem fadenscheinigen Gehrock – dessen Brieftasche sich unter ihrer Schürze plötzlich anfühlte wie ein Stück glühende Kohle. «Soll ich ihn holen?» Himmel, was drängte sie plötzlich dazu, ihm behilflich zu sein?
Da machte der Mann einen Schritt auf sie zu und streckte ihr beinahe förmlich die Hand entgegen. «Ich bin Alvise Tron», sagte er. In seinem Lächeln war nicht die Spur einer Herablassung. Noch nie hatte ein Erwachsener so mit ihr gesprochen. «Und wie heißt du?»
Sie musste schlucken. «Angelina Zolli.»
«Wie alt bist du, Angelina?»
«Vierzehn», sagte sie. Das war gelogen. Sie wurde erst in einem halben Jahr vierzehn.
Der Mann, der Signor Tron hieß, erneuerte sein höfliches Lächeln. «Dann sollte ich Signorina Angelina sagen.»
Sein Blick wanderte noch einen Moment über das Schachbrettmuster des
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