Venezianische Verlobung
fiel Tron angenehm auf, dass der medico legale seine Arbeit mit großer Behutsamkeit verrichtete, so als sei der tote Körper, mit dem er es zu tun hatte, immer noch in der Lage, Scham und Schmerz zu empfinden. Schließlich erhob sich Dr. Lionardo und entzündete behaglich eine Zigarette.
«Und?»
Der dottore inhalierte und blies einen Rauchring in die Luft. «Sie scheint sich nicht gewehrt zu haben», sagte er.
«Weder an den Händen noch an den Armen gibt es Ab wehrverletzungen. Ist eingebrochen worden?»
Tron schüttelte den Kopf.
«Dann hat sie den Täter vermutlich gekannt, und der Angriff kam völlig überraschend.»
«Waren die Messerstiche tödlich?»
Dr. Lionardo machte ein unschlüssiges Gesicht. Sein Blick wanderte noch einmal über den Körper der Toten. «Der Täter hat viermal zugestochen, und ob er das Herz getroffen hat, wird erst die Obduktion zeigen. Der Bursche scheint ein Messer mit einer schmalen, langen Klinge benutzt zu haben, aber vermutlich waren die Stiche nicht tödlich, und er musste ihr die Luft abdrücken.» Dr. Lionardos Zeigefinger richtete sich auf die Würgemale am Hals des Mädchens.
«Können Sie etwas zum Zeitpunkt des Todes sagen?», erkundigte sich Tron.
«Wann ist in diesem Raum zum letzten Mal geheizt worden?» Dr. Lionardo warf einen Blick auf den Ofen in der Ecke.
Tron zuckte die Achseln. «Vermutlich vorgestern Abend. Es war keine Glut mehr im Ofen.»
«Dann könnte sie vorgestern Nacht ermordet worden sein. Das Blut war noch nicht vollständig getrocknet.»
«Das heißt vor ungefähr achtundvierzig Stunden.»
Dr. Lionardo nickte. «Ungefähr.» Er beugte sich über die Leiche und strich mit einer fast zärtlich anmutenden Geste über die Augen der Toten, um sie zu schließen.
Fünf Minuten später trugen die Leichenträger den Sarg mit dem Körper der Toten über den Hausflur, und Tron hörte, wie sie ihn rumpelnd auf die Polizeigondel verluden. Vom Fenster des Wohnzimmers aus sah Tron, wie die Gondel sich vom Steg löste, ihre Konturen mit jeder Bewegung des Ruders in der forcola unschärfer wurden und sie schließlich im Nieselregen, der noch immer vom Himmel fiel, verschwand.
7
Angelina Zolli fuhr mit dem Reisigbesen über den kleinen Schmutzhaufen vor dem Marmorpodest des Weihwasserbeckens und spürte, wie sie wütend wurde. Bei Trockenheit war das Zusammenfegen des Schmutzes kein Problem, und der Staub, den sie dabei aufwirbelte, störte sie nicht. Doch wenn es regnete, klebte der Schmutz hartnäckig auf dem beigeroten Schachbrettmuster des Kirchenfußbodens, als wäre er angenagelt, was bedeutete, dass Signora Zukam, die Frau des Küsters, von ihr verlangen würde, nachzuwischen.
Mit einem Lappen, einem Eimer und mit Wasser, das so kalt war, dass ihre Hände bereits nach fünf Minuten rot und steif wurden. Im Sommer war Nachwischen kein Problem, im Winter (oder an einem kalten Herbsttag wie diesem) war es die Hölle – zumal sich niemand die Mühe machte, seine Stiefel am Eingang abzutreten.
Keine Frage, dass ein wenig Sägemehl, ausgestreut im Eingangsbereich der Kirche, ihr die Arbeit spürbar erleichtert hätte. Aber als sie Signora Zuliani den Vorschlag machte, hatte diese barsch erklärt: Sägespäne werden nur in Trattorien ausgestreut. Was eindeutig nicht stimmte. In San Stefano streute man bei Regenwetter Sägemehl, ebenfalls in San Moisè und sogar in San Marco.
Angelina Zolli schob den Reisigbesen noch einmal über den kleinen Schmutzhaufen, aber der rührte sich nicht vom Fleck. Nachwischen! Sie lehnte den Besen an das Weihwasserbecken, verzog das Gesicht und presste ihre Faust auf den Mund, um nicht in Tränen auszubrechen. Dann lief sie zur ersten der drei Kapellen, die auf jeder Seite die Wände von Santa Maria Zobenigo säumten. Dort saß die Heilige Jungfrau und hielt das Christuskind im Schoß – auf eine Art, bei der zu befürchten stand, dass der Erlöser ihr jeden Moment vom Knie rutschen könnte, was die Jungfrau jedoch nicht daran hinderte, einen imaginären Punkt auf der anderen Seite der Kirche zu fixieren.
Manchmal, hatte Pater Maurice gesagt, gibt uns die hei lige Mutter ein Zeichen, wenn wir uns ihr nur inbrünstig genug anvertrauen. Angelina Zollis Blick fuhr forschend über das Antlitz der Jungfrau, aber das blieb so stumm und kühl wie der Marmor, aus dem es gemacht worden war.
Dabei gab es eine ganze Reihe von Fragen, die Angelina Zolli der Jungfrau gern gestellt hätte.
Zum Beispiel,
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