Venezianische Verlobung
auf der Hand – immerhin trägt der Mann Zivilkleidung. Und den Bericht übergeben wir ein paar Tage später.»
«Um in der Zwischenzeit was zu machen?»
«Um den Bericht zu vervollständigen.»
«Womit?» Bossis Gesichtsausdruck war ausgesprochen skeptisch.
«Mit Beweisen, die so eindeutig sind, dass weder der Baron noch irgendein Militärstaatsanwalt sie ignorieren kann.»
«Und wie kommen wir an diese Beweise?»
Tron griff nach der Mappe mit den Gedichten und erhob sich. Die Mappe enthielt nur sechs Seiten, aber sie wog schwer in seiner Hand. Er sagte: «Mit einem Köder, den wir haben. Ich bin sicher, dass Schertzenlechner anbeißen wird.»
15
Von hinten, fand Angelina Zolli, sah der Palazzo Tron nicht besonders beeindruckend aus. Eigentlich sah er überhaupt nicht wie ein Palazzo aus, denn seine rückwärtige Fassade war bis auf zwei etwas schief im Gemäuer sitzende, spitzbogige Fensterchen ausgesprochen schlicht. Allenfalls das große Portal mit dem steinernen Wappen darüber machte etwas her – oder: würde etwas hergemacht haben, wenn nicht ein großer Riss den heraldischen Löwen gespalten hätte und wenn der Campiello Tron, der winzige Platz vor dem Palazzo, mit seinen abblätternden Fassaden und den zwischen den Fenstern gespannten Wäscheleinen nicht so schäbig gewirkt hätte.
Zu Angelina Zollis Erleichterung hatte der Regen, der den ganzen Tag über gefallen war, vor einer halben Stunde aufgehört, aber die Luft war immer noch voller Feuchtigkeit, und die Fassaden, die den Campiello umschlossen, glänzten vor Nässe. Unmittelbar vor dem Portal hatte das Regenwasser der letzten Tage eine schlammige Pfütze gebildet, an deren Rand zwei zerlumpte Kinder knieten, um ein kleines Schiff aus Flaschenkorken schwimmen zu lassen.
Während der paar Minuten, in denen Angelina Zolli die Rückfront des Palazzo Tron gemustert hatte, hatte ein halbes Dutzend ärmlich aussehender Leute, vermutlich Mieter, die Pfütze umrundet, um den Palazzo entweder zu betreten oder zu verlassen. Angelina Zolli wusste, dass der Palazzo Tron sehr groß war, sich bis zum Canal Grande erstreckte, doch wie weit der Canalazzo entfernt lag, konnte sie unmöglich sagen. Sie hatte im Labyrinth der kleinen Gassen zwischen der Fondaco dei Turchi und San Stae die Orientierung verloren.
Angelina Zolli seufzte. Eigentlich hätte sie jetzt durch das Portal unter dem zerbrochenen Löwen gehen können, aber sie zögerte, weil sie immer noch zu keinem Entschluss gekommen war. Würde es klug sein, ihre Karten vollständig auf den Tisch zu legen, oder nicht? Tatsache war, dass sie den ganzen Tag unablässig darüber nachgedacht hatte, wie sie mit dem, was ihr kurz nach dem Aufwachen eingefallen war, umgehen sollte.
Es war wie eine … – was für ein Wort hatte Pater Maurice dafür? Ja, richtig. Wie eine Erleuchtung. Etwas wurde hell, trat aus dem Dunkel, sodass man es sehen konnte.
Nur, dass sie nicht das Gesicht der Heiligen Jungfrau gesehen hatte, in einem Kranz aus Licht, sondern das Gesicht des Mannes, der am Sonntag die Frau getötet hatte. Sie war heute Morgen aufgewacht und hatte sich – noch bevor sie richtig wach gewesen war – an ihn erinnert. Jetzt hätte sie seine Nase beschreiben können, seine Stirn, sein Kinn. Und seinen Mund, über den er seinen Zeigefinger gelegt hatte, um sie zum Schweigen aufzufordern.
Das alles – also eine ziemlich gute Beschreibung zusammen mit der Tatsache, dass er um Mitternacht die Erzherzog Sigmund bestiegen hatte – würde dem Commissario wahrscheinlich ermöglichen, den Mann zu identifizieren. Der Commissario musste lediglich die Passagierlisten durchgehen und dem Zahlmeister ein paar Fragen stellen. Im Grunde war es ein reines Kinderspiel. Es war so einfach, dass …
Angelina Zolli schob den Gedanken – die Versuchung – beiseite, schlug den Kragen ihres Umhangs nach oben und lief auf das Portal zu. In jedem Fall brauchte sie jetzt etwas von ihrem Geld. Und der Commissario hatte gesagt, dass sie es sich im Palazzo Tron abholen konnte, wann immer sie
wollte. Sie würde eine Entscheidung treffen, wenn sie ihn sah. Falls sie ihn überhaupt antraf.
Wie sie vermutet hatte, führte das rückwärtige Portal des Palazzo Tron in einen Innenhof, und von diesem aus gab es einen Gang durch ein weiteres Gebäude in einen zweiten Innenhof. Auch hier war, wie auf dem Campiello, der intonaco, die äußere Putzschicht auf den gemauerten Fassaden, weitgehend abgeblättert. Neben einem
Weitere Kostenlose Bücher