Venezianische Verlobung
ungewöhnlich. Ein gutes Drittel des venezianischen Immobilienbesitzes – Kirchen, Klöster und Konvente nicht eingerechnet – gehörte immer noch der Kirche und wurde vom Liegenschaftsamt des Patriarchen von Venedig verwaltet.
Sergente Bossi fuhr fort. «Nach Auskunft der Bewohner der Nebenwohnung wird die Miete monatlich von einem Pater Ambrosio kassiert. Der Pater kommt an jedem Ersten persönlich vorbei – es sei denn, es ist etwas anderes verabredet worden.»
Tron hob die Augenbrauen. «Was bei Anna Slatapers Miete der Fall war.»
«So ist es, Commissario. Ich war auf dem kirchlichen Liegenschaftsamt an der Piazza dei Leoni und hatte ein Gespräch mit Pater Ambrosio.» Sergente Bossi stieß den Seuf zer eines Mannes aus, dem sich tausend Widrigkeiten in den Weg stellen. «Der Pater war nicht sehr auskunftsfreudig. Erst konnte er sich nicht an das Haus erinnern, dann konnte er angeblich die entsprechenden Unterlagen nicht finden.»
«Und?»
«Ich habe darauf hingewiesen, dass in dieser Wohnung ein Mord geschehen ist und dass wir uns notfalls direkt an den Patriarchen wenden müssten.»
«Was ihn vermutlich nicht beeindruckt hat.»
«Doch.» Bossi gestattete sich ein Grinsen. «Der Pater wurde schlagartig nervös. Die Vorstellung, dass das Büro des Patriarchen eingeschaltet werden könnte, hat ihm gar nicht gefallen.»
Tron zog die Stirn kraus. «Weil die Miete höher war als in den anderen Wohnungen und weil ohne Quittung kassiert wurde?»
Bossi nickte. Er blätterte schwungvoll eine Seite in seinem Notizbuch um. «Die Miete für die Wohnung von Signora Slataper wird alle drei Monate im Voraus bezahlt. Und Sie haben richtig vermutet, Commissario. Sie ist doppelt so hoch. Zweifellos, weil der Mieter keinen Wert darauf legte, dass allzu viele Fragen gestellt wurden.»
«Was hatte der Pater über den Mieter zu sagen?»
«Er sagte, es habe sich um einen Kroaten gehandelt. Der Mann soll kein sehr gutes Italienisch gesprochen haben.»
«Konnte er den Mann beschreiben?»
«Mittelgroß, dunkle Haare. Und er hat …»
«Gehinkt.»
Bossi klappte sein Notizbuch zu. «Pater Ambrosio hat eine ziemlich gute Beschreibung Schertzenlechners abgeliefert.»
«Gut. Gehen wir davon aus, dass es sich bei dem Mieter der Wohnung, die Anna Slataper bewohnt hat, tatsächlich um Schertzenlechner handelt.» Tron überlegte einen Moment lang. «Schertzenlechner, der im Auftrag seines Herrn für ein Liebesnest gesorgt hat und verständlicherweise ein großes Interesse an Diskretion hatte. Die entscheidende Frage ist doch: War Schertzenlechner Sonntagnacht in Venedig?»
Es gelang Bossi nicht ganz, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. «Er war. Ich bin am Lloydanleger gewesen. Schertzenlechner steht auf der Passagierliste der Erzherzog Sigmund. Hat es nicht für nötig gehalten, unter einem falschen Namen zu reisen.»
«Kann sich der Zahlmeister der Erzherzog Sigmund an ihn erinnern?»
Bossi nickte. «Der Zahlmeister kennt ihn. Schertzenlechner ist ständig mit dem Lloyd zwischen Venedig und Triest unterwegs. Reist immer auf Beförderungsschein.»
«Was für ein Beförderungsschein?»
Bossi musste kurz nachdenken, hatte dann aber die Antwort parat. «Militär», sagte er. «Unterzeichnet von irgendeinem Kapitänleutnant.»
«Ist Ihnen klar, was das heißt?»
«Dass Schertzenlechner einen militärischen Rang bekleidet.»
Tron nickte. «Vermutlich. Denn als Militärangehöriger wird er nicht aus der Privatschatulle des Erzherzogs bezahlt, sondern aus dem Marineetat. Aber das ist nicht das Entscheidende. Wenn Maximilians Privatsekretär Angehöriger der kaiserlichen Marine ist, dann können wir ihn weder vernehmen noch verhaften.»
«Sondern?»
Tron sah Bossi an. Das drängende Stirnrunzeln des Sergente signalisierte, dass Bossi bereits ahnte, was er gleich hören würde. In Bossis Schweigen hinein sagte Tron: «Wir müssten die Ermittlungen an die Marine abgeben. Aber in jedem Fall schreiben wir einen Bericht für Spaur.»
Bossi zuckte enttäuscht die Achseln. «Dann wird der Baron den Fall den Militärbehörden übergeben, und die Sache verläuft im Sande.»
«Nein, das wird sie nicht.» Tron betrachtete die Mappe mit Spaurs Gedichten. Die Mappe mit seiner grauenhaften Übersetzung von Spaurs Gedichten. Auf einmal war ihm alles egal. Er lächelte grimmig und sagte: «Wir ermitteln vorläufig weiter, denn die Annahme, dass Schertzenlechner kein Militärangehöriger ist, liegt
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