Venezianische Verlobung
er Schertzenlechner im Verhörraum stellen würde. Als Tron nicht reagierte, fuhr Bossi mit amtlicher Stimme fort: «Diese Schlussfolgerung erscheint mir hinsichtlich des derzeit vorliegenden Tatsachenmaterials unabweisbar» – ein Satz, den er sich offenbar für den mündlichen Teil der Inspektorenprüfung zurechtgelegt hatte.
Tron lächelte. «Das derzeit vorliegende Tatsachenmaterial war dem Polizeipräsidenten nicht vollständig bekannt.
Zu Ihrer Schlussfolgerung konnte Spaur also nicht kommen.»
«Inwiefern?»
«Weil ich Spaur gegenüber nicht erwähnt habe, dass die Beschreibung des Mörders, die uns Angelina Zolli gegeben hat, auf den Privatsekretär Maximilians zutrifft. Was heißt zutrifft – wir wissen lediglich, dass der Mörder hinkt. Mehr wissen wir nicht. Das ist keine sehr präzise Beschreibung.»
«Schertzenlechner hinkt ebenfalls.»
«Schertzenlechner ist nicht der einzige hinkende Mann in Venedig. Daraus auf einen Auftragsmord zu schließen erscheint mir nun doch etwas zu voreilig.» Tron zupfte beim Nachdenken an seiner Halsbinde. «Abgesehen davon sehe ich kein Motiv für einen Auftragsmord. Warum hätte Maximilian ein Interesse daran, seine Geliebte umbringen zu lassen?»
«Vielleicht, weil sie irgendetwas gegen den Erzherzog in der Hand hat und Maximilian es sich im Moment nicht leisten kann, kompromittiert zu werden.»
Tron runzelte die Stirn, legte die Fingerspitzen aneinander und das Kinn darauf. Er sah Bossi direkt an. «Das hört sich ziemlich spekulativ an, Sergente.»
«Aber was hätte Schertzenlechner für einen Grund, Anna Slataper zu töten?» Bossi hielt entschlossen an seiner Theorie fest. «Und warum interessiert man sich in Triest für den Fall?»
«Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil Gutiérrez in die Geschichte verwickelt ist.»
Der Sergente lehnte sich auf seinem Bugholzstuhl so weit nach hinten, dass das Holz gefährlich knackte. «Was hat Spaur zu dem Medaillon gesagt? Ist er der Meinung, dass es sich bei dem geheimnisvollen Liebhaber Anna Slatapers um den Erzherzog handelt?»
Tron zuckte die Achseln. «Der Baron hat sich nicht dazu geäußert.»
Hatte er tatsächlich nicht, was Tron darauf zurückführte, dass Spaurs Aufmerksamkeit vorhin hauptsächlich von der Frage in Anspruch genommen worden war, ob seine Geliebte ihn betrog oder nicht. Er sagte: «Spaur hat sich bedeckt gehalten. Aber er möchte jeden Tag einen Bericht auf seinem Schreibtisch. Außerdem hat er zurzeit ein ganz anderes Problem.» Tron räusperte sich nervös. «Der Kollege Spadeni aus Triest hat uns einen Tipp gegeben. Es geht um eine Frau, die …»
Tron kniff die Augen zusammen, um nachzudenken.
Das mit Spadeni war schon mal ein guter Anfang. Aber was für einen Tipp hatte Spadeni Spaur gegeben? Schließlich sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel: «Es geht um eine Frau, die sich in großem Stil als Hehlerin betätigt. Sie kauft gestohlenen, äh, Schmuck. Spaur möchte, dass wir der Sache nachgehen und Beweise sammeln.» Das hörte sich nicht besonders gut an, aber Bossi würde es schlucken.
Der zückte bereits seinen Bleistift. «Wo wohnt die Frau?»
«Calle Speranza. Das Haus mit dem Gemüsehändler im Erdgeschoss.»
«Und was schwebt dem Baron vor?»
«Überwachung der weiblichen Person und des Objek tes», sagte Tron knapp und militärisch. «Zielperson darf nicht merken, dass sie beobachtet wird.»
Großer Gott, jetzt redete er schon selber so, als müsste er sich auf eine Inspektorenprüfung vorbereiten. Das Wort Zielperson hatte Bossi veranlasst, die Augenbrauen zu heben.
Zweifellos würde er es umgehend in seinen Wortschatz aufnehmen.
Der Sergente dachte kurz nach. «Wir könnten zur Überwachung der weiblichen Zielperson und des Objektes zwei Beamte aus der Nachtschicht …»
Tron unterbrach ihn. «Keine offiziellen Polizeikräfte.
Nehmen Sie ein paar von unseren Informanten. Was ist mit den beiden Taschendieben?»
«Arcoli und Fretti?»
«Arbeiten die noch für uns?»
«Ja, sicher.»
«Dann nehmen Sie die beiden und lassen Sie die Frau beschatten.»
«Rund um die Uhr?»
Tron nickte. «Rund um die Uhr.»
«Und was machen wir mit Schertzenlechner?»
«Das Einzige, was wir bisher über Schertzenlechner wissen, ist, dass er Maximilians Privatsekretär ist, hinkt und Verbindungen zu Gutiérrez hat», sagte Tron. «Und dass er am Montag in Triest war. Auf einem Empfang, den Maximilian für die mexikanische Delegation gegeben
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