Venezianische Verlobung
zwei Teile zerschnittenen Photographie des Erzherzogs und das Angebot, die zweite Hälfte des Photos für hundert Lire zu kaufen – eine Summe, die Schertzenlechner mühelos auftreiben konnte.
Wahrscheinlich, sagte sich Tron, würde Schertzenlechner die Haushälterin Anna Slatapers hinter der Erpressung vermuten. Er hätte keine Erklärung dafür, wie sie wissen konnte, dass es sich bei der Photographie um den Erzherzog handelte; er würde sich ebenfalls fragen, wie sie auf ihn kam und woher sie wusste, dass er im Danieli absteigen würde. Wahrscheinlich schloss er aus der bescheidenen Höhe der geforderten Summe auf einen kleinen Fisch und würde bezahlen.
Doch was Schertzenlechner sich dabei dachte, spielte keine Rolle. Das Entscheidende war, dass er die Anweisung befolgte und sich um Mitternacht an der Scuola dei Varotari auf dem Campo Santa Margherita einfand. Noch entscheidender war, dass er angesichts der Polizei, mit der er sich plötzlich konfrontiert sehen würde, die Nerven verlor und anfing zu reden. Ein schöner Plan – falls er funktionierte.
Kurz vor halb zwölf, als Tron gerade die Lektüre einer gestern im Café Quadri konfiszierten Stampa di Torino beendet hatte, klopfte es an der Tür.
Tron hatte Sergente Bossi erwartet, der die questura vor einer Stunde verlassen hatte, um festzustellen, ob Schertzenlechner heute Morgen tatsächlich im Danieli eingetroffen war. Aber es war nicht Bossi, der auf der Schwelle stand, sondern ein Mann in einem dunklen Gehrock – jemand, der Tron vage bekannt vorkam. Der Mann trug den üblichen schwarzen Zylinder und nahm ihn höflich vom Kopf, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte – so als wären sie verabredet gewesen und hätten nun eine längere Unterredung vor sich. Wäre der Besuch nicht so unwahrscheinlich gewesen, hätte Tron ihn sofort erkannt.
«Commissario Tron?»
Schertzenlechner, der Privatsekretär Erzherzog Maximilians, der Mann, den Angelina Zolli in der Mordnacht neben der Leiche Anna Slatapers angetroffen hatte, zog fragend seine Augenbrauen nach oben. Er hatte seinen Oberkörper leicht nach vorne geneigt, und mit seinem fliehenden Kinn und seinen kleinen, eng zusammenstehenden Augen entsprach er in fast lächerlicher Weise dem Klischee einer intriganten Hofschranze.
Tron erhob sich hinter seinem Schreibtisch und ging Schertzenlechner, wie er es bei allen Besuchern tat, automatisch entgegen, doch dann widerstrebte es ihm, dem Privatsekretär die Hand zu reichen. Also beschränkte er sich darauf, den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch ein paar Zentimeter zu verrücken und den Privatsekretär mit einer Handbewegung zum Sitzen aufzufordern. Schertzenlechner nahm Platz, wobei er sorgfältig vermied, sich anzulehnen, vermutlich aus Rücksicht auf seinen neuen Gehrock, der teuer aussah, aber viel zu modisch war, um elegant zu sein.
Tron, der immer noch nicht wusste, was von alledem zu halten war, fragte: «Was verschafft mir die Ehre, Signor Schertzenlechner?»
Wenn Schertzenlechner überrascht darüber war, dass Tron wusste, wer er war, zeigte er es nicht. Stattdessen lä chelte er breit und entblößte eine Reihe gelber, leicht nach innen gekrümmter Zähne, die Tron an die Klauen eines Raubtiers erinnerten. «Ich glaube, Sie wissen, weshalb ich gekommen bin, Commissario.»
Nein, das konnte man kaum behaupten. Aber offenbar nicht, um ein Geständnis abzulegen, dachte Tron. Dafür war Schertzenlechners Gesichtsausdruck zu selbstsicher, sein ganzes Auftreten zu glatt. Außerdem war ihm sicherlich bekannt, dass er als Militärangehöriger der zivilen venezianischen Polizei keine Rechenschaft schuldig war.
Tron brachte es fertig, höflich zu lächeln. «Sagen Sie es mir, Signor Schertzenlechner.»
«Weil Seine Hoheit es für besser hielt, der örtlichen Polizei mitzuteilen, dass Seine Hoheit in näherem Kontakt zu der Ermordeten gestanden hat», sagte Schertzenlechner.
Das näselnde Schönbrunner Deutsch des Privatsekretärs passte zu seiner aufgesetzten Arroganz, die zugleich etwas Geducktes, Beflissenes hatte. Tron musste an das Gerücht denken, dass Schertzenlechner ursprünglich ein Lakai an der Wiener Hofburg gewesen war. Sie hatten wie selbstverständlich Deutsch gesprochen – eine Sprache, die Tron flie ßend beherrschte. Schertzenlechner schien vor seinem Besuch auf der questura Erkundigungen über ihn eingezogen zu haben. Aber was zum Teufel wollte er hier?
Schertzenlechner lächelte fischig.
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