Venezianische Verlobung
(wahrscheinlich hegte Signor Zuliani ähnliche Hoffnungen), aber sie vernahm weder einen Schrei noch ein Platschen. Stattdessen hörte sie ein Schnaufen, danach das Quietschen der Angeln und anschließend, wie die Tür krachend ins Schloss fiel, sodass die Kerzen vor den Kapellen flackerten und der Wasserspiegel des Weihwasserbeckens erzitterte. Die Nummer mit der Tür erlaubte sich Signora Zuliani auch während des Hochamtes, aber selbst Pater Maurice hatte es nie gewagt, sich darüber zu beschweren. Niemand legte sich freiwillig mit Signora Zuliani an.
Vorsichtshalber hielt Angelina Zolli noch einen Moment lang lauschend den Atem an. Aber das Einzige, was sie hörte, waren die Regentropfen, die der Wind in unregelmäßigem Rhythmus an die oberen Kirchenfenster wehte. Dann breitete sie das feuchte Scheuertuch auf dem Kirchenfuß boden aus und stellte den Schrubber auf das Tuch. Sie schlug die vier Ecken des Scheuertuchs nach oben, drehte sie um den Stiel des Schrubbers und band sie mit einem Stück Bast zusammen. Sie machte eine Schleife – keinen Knoten, denn falls Signora Zuliani wider Erwarten zurückkam, war es notwendig, den Scheuerlappen mit einem Griff entfernen zu können. Angelina Zolli hatte nicht die geringste Lust, sich einen langen Vortrag darüber anzuhören, wie man richtig wischt – nämlich auf den Knien und mit einem Scheuerlappen, den man in die Hände nimmt, damit man auch in den Ecken wischen kann. Weil Christus, der Herr und Erlöser, der alles sah, selbstverständlich auch in den Ecken gucken würde, ob sein Tempel reinlich war. Und wenn der Heiland feststellen würde, dass sich in den Ecken Schmutz oder Staub befand, dann … Signora Zuliani äu ßerte sich nie genauer zu den Folgen, die eine Vernachlässigung der Ecken in einem Gotteshaus nach sich ziehen würde, aber ihr Gesichtsausdruck ließ jedes Mal das Schlimmste befürchten.
Angelina Zolli ergriff den Schrubber und warf einen prüfenden Blick auf den Kirchenfußboden. Der Mittelgang war noch zu putzen, dann die Altarstufen und die Stufen zu den Kapellen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie in einer halben Stunde fertig sein und sich anschließend am Lloydanleger umsehen.
Gestern und vorgestern hatte sie die Erzherzog Sigmund, den Lloyddampfer, den der Mörder Sonntagnacht bestiegen hatte, nicht gesehen. Aber vielleicht würde das Schiff heute in Venedig sein. Und dann könnte sie … einfach an Bord gehen und mit dem Zahlmeister reden? Nein, das würde nicht funktionieren. So, wie sie bekleidet war, mit ihrem geflickten Kleid und dem Umhang, den sie sich aus einer Pferdedecke genäht hatte, würde man sie nicht einmal auf den Steg lassen. Angelina Zolli seufzte. Wenn ihr auf dem Weg zum Lloydanleger nichts einfiel, würde sie an Ort und Stelle improvisieren müssen.
Als sie die Kirche eine knappe Stunde später verließ, fiel der Regen, der die Stadt den ganzen Tag lang in einen flüssigen Vorhang gehüllt hatte, nur noch als feine Gischt vom Himmel herab, und auf der Salizada San Moisè, kurz bevor sie die Piazza San Marco erreichte, hörte er plötzlich auf.
Sie betrat die Piazza kurz nach vier, passierte zwei Kroatische Jäger, die den Aufgang zum Palazzo Reale bewachten, und lief langsam über den Markusplatz, wobei sie die Gesichter der ihr entgegenkommenden Männer misstrauisch musterte. In den letzten sechs Tagen hatte sie sich im mer wieder gefragt, ob der Mann, dem sie vor der Leiche Anna Slatapers begegnet war, ihr nicht noch gefährlich werden konnte.
Wenn er kein Fremder war, der das Lloydschiff nach Triest nur benutzt hatte, um weiterzureisen, sondern ein Einheimischer, war nicht auszuschließen, dass er inzwischen bereute, sie am Leben gelassen zu haben. Angelina Zolli war zu dem Schluss gekommen, dass der Mann sie nicht aus Mitleid geschont hatte, sondern weil er das Risiko, dass sie schreien würde, nicht eingehen wollte. Was bedeuten konnte, dass er jetzt die Stadt auf der Suche nach ihr durchstreifte.
Sie war unwillkürlich unter die Arkaden der Prokurazien getreten und ließ ihre Blicke über die Piazza schweifen.
Links von ihr, direkt vor dem Café Florian, stand ein halbes Dutzend österreichischer Offiziere, die in ihren weißen, lässig umgehängten Offiziersmänteln wie eine Ansammlung eitler Pfauen wirkten. Sie rauchten und starrten einer Gruppe von schwarz gekleideten Seminaristen hinterher,
die von einem ebenso schwarz gekleideten Priester angeführt wurde. Der Priester trug einen
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