Venezianische Verlobung
warum er ihn jetzt erst bemerkte. Die im Todeskampf ab gerissene Maske lag neben ihm, und selbst das trübe Licht der Petroleumlampe reichte aus, um seine weit aufgerissenen Augen zu erkennen, die bewegungslos an die Decke starrten. Dann blickte Tron an sich herab auf den Tisch und registrierte ohne große Überraschung, dass die Photographien verschwunden waren. Die Mühe, in den Taschen des Toten zu wühlen, konnte er sich sparen. Er wusste, dass auch das Geld verschwunden sein würde.
Es dauerte dann noch eine gute Stunde, bis die übliche Mannschaft am Tatort eingetroffen war: Bossi, der sich in der questura bereit gehalten hatte, drei weitere Sergenti aus der Wache an der Piazza und Dr. Lionardo in Begleitung zweier Leichenträger. Kapitänleutnant von Beust, den der umsichtige Bossi im Danieli benachrichtigt hatte, traf zehn Minuten später ein. Beust sah bleich und verschlafen aus.
Offenbar war er in großer Eile im Hotel aufgebrochen, denn er hatte den Zylinderhut vergessen, und seine purpurfarbene Weste unter dem offen stehenden Gehrock war schief geknöpft.
Tron hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als zum Ball zurückzulaufen, in der Hoffnung, am Rio di Santa Caterina noch eine Gondel anzutreffen. Tatsächlich hatte er mit viel Glück einen Gondoliere erwischt, der sich allerdings zunächst weigerte, eine Nachricht auf die questura zu bringen. Erst als Tron ihm mit dem Entzug der Lizenz drohte, hatte der Mann sich mürrisch dazu bereit erklärt.
Jetzt saß Tron auf der Tischkante und sah zu, wie Dr. Lionardo den Toten untersuchte. Neben ihm stand die obligatorische schwarze Ledertasche, in der Dr. Lionardo ein unerschöpfliches Arsenal von Scheren, Skalpellen, Pinzetten und Holzspateln verwahrte. Er pfiff eine Melodie aus der Traviata, während er das Hemd des Toten aufschnitt, um einen ersten Blick auf die Wunden zu werfen.
Bossi und die drei anderen Sergenti hatten ein halbes Dutzend große Petroleumlampen mitgebracht – Lampen, die vor einem Schirm aus rundem Spiegelglas brannten und auf hölzerne Stative montiert waren. In einem großen Halbkreis um das Opfer angeordnet, tauchten sie den Toten in ein helles, unbarmherziges Licht. Tron sah die Spuren, die der Mann auf dem Weg vom Tisch zur Wand im Staub hinterlassen hatte: Blut, das überall zu kleinen, bräunlich schimmernden Lachen geronnen war. Und er sah dort, wo der Mann vergeblich versucht hatte, sich hochzustemmen, die Blutspuren auf dem Putz – ein bizarres Muster von kleinen und großen Flecken, das an eine Schrift aus unbekannten Buchstaben erinnerte. Die Pariser Polizei, hatte Tron im Wiener Polizeikurier gelesen, rückte inzwischen stets mit einem Photographen an, der die Leiche und den Ort des Verbrechens aus allen erdenklichen Blickwinkeln auf die Platte bannte. Tatortphotographien nannte man das. Der Vorteil bestand darin, dass man, falls man am Ort des Ver brechens etwas übersehen hatte, auf die Photographien zurückgreifen konnte. Und irgendetwas übersah man immer.
«Er hat nicht versucht, sich zu wehren», sagte Dr. Lionardo. Er drehte sich um, und Tron sah das Skalpell, mit dem der dottore eben das Hemd des Toten zerschnitten hatte, in seiner Hand blitzen.
«Weil er sofort tot gewesen ist?»
Dr. Lionardo schüttelte den Kopf. «Das war er nicht. Es ist zweimal auf ihn gefeuert worden. Und auch nach dem zweiten Schuss war er nicht sofort tot.»
Der Doktor ließ sich auf die Knie fallen und drehte den Körper des Toten vorsichtig auf die Seite. Wieder schnitt er eine handtellergroße Öffnung in das Hemd des Toten. «Der erste Schuss traf ihn in den Rücken», sagte er. «Knapp neben der Wirbelsäule. Das hat ihn erst mal außer Gefecht gesetzt. Diese Wunde hat stark geblutet. Dann hat der Mörder ein zweites Mal geschossen. Diesmal auf die Brust des Mannes. Er hat vermutlich genauer gezielt. Aber er hat das Herz knapp verfehlt.»
«Was bedeutet das?»
Dr. Lionardo überlegte kurz. «Dass der Mann noch länger gelebt hat und wahrscheinlich bei Bewusstsein war.
Vermutlich ist er an inneren Blutungen gestorben, aber mit Sicherheit kann ich das erst nach der Sektion sagen.» Er erhob sich von den Knien und streifte seine weißen Baumwollhandschuhe ab. Einen Moment lang verdeckte seine massige Gestalt den Ermordeten und die bizarren Blutflecke an der Wand.
«Was für eine Waffe hat der Mörder benutzt?», erkundigte sich Tron.
Dr. Lionardo hob die Hand. Die Schatten seiner Arme huschten über die Wand
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