Venezianische Verlobung
wie schwarze Fledermausflügel.
«Schwer zu sagen. Ein Armeerevolver war es nicht. Die Kugel hat den Körper nicht durchschlagen. Irgendetwas Kleineres.» Er verstaute die Handschuhe in seiner Ledertasche. Dann trat er einen Schritt nach vorne, sodass die Wand und der Ermordete wieder im hellen Licht der Petroleumlampen lagen.
Später fragte sich Tron, warum er nicht sofort darauf gekommen war. Im Grunde lag es auf der Hand oder, besser gesagt, im hellen Licht der spiegelverstärkten Petroleumlampen. Es war genau das, was die Pariser Kriminalpolizei mit ihren Photographien einfangen wollte. Etwas, das Bossi eine geschlossene Indizienkette genannt hätte. Oder, in diesem Fall, den Anfang einer Indizienkette.
«Ich verstehe nicht, warum er zur Wand gekrochen ist», sagte Tron langsam. Was nicht ganz stimmte, den er glaubte sehr wohl zu verstehen, warum der Mann versucht hatte, die Wand zu erreichen. «Der Schuss traf ihn, als er vor dem Tisch stand. Die Wand ist mindestens fünf Schritte vom Tisch entfernt.»
«Panik.» Dr. Lionardo gähnte. Tron wusste, dass der dottore es grundsätzlich ablehnte, aus seinen Befunden irgendwelche Schlüsse zu ziehen. «Er ist einfach in irgendeine Richtung gekrochen, nachdem ihn der erste Schuss getroffen hat», fügte Dr. Lionardo hinzu.
Tron schüttelte den Kopf. «Wenn er einfach nur in Panik weggekrochen wäre, dann hätte er sich instinktiv unter den Tisch geflüchtet. Außerdem ist er zur Wand gekrochen, als der Mörder bereits verschwunden war.»
«Woraus schließen Sie das?» Dr. Lionardo sah Tron ver wundert an.
«Aus dem, was Sie eben gesagt haben, dottore. Sie haben gesagt, dass die Wunde am Rücken sehr stark geblutet hat und dass der zweite Schuss von vorne ins Herz abgegeben worden ist.» Tron zeigte auf einen großen Blutfleck direkt vor dem Tisch. «Und was ist das hier?»
Dr. Lionardo warf einen Blick auf den Fußboden.
«Ziemlich viel Blut», musste er zugeben.
Tron nickte. «Er ist also mitnichten weggekrochen, nachdem der erste Schuss gefallen war. Er hat sich auf seine blutende Wunde im Rücken gedreht. Daraufhin hat der Mörder auf sein Herz gezielt. Dann ist er verschwunden. Er hatte allen Grund, sich zu beeilen, denn er konnte nicht ausschließen, dass jemand in einem der Nebenhäuser die Schüsse gehört hatte. Aber der Mann war nicht tot. Er hat noch etwas Wichtiges erledigt, bevor er starb.»
Dr. Lionardo runzelte die Stirn. «Sie sprechen in Rät seln, Commissario.»
Es war Beust, der als Erster begriff, worauf Tron hi nauswollte. Der Kapitänleutnant hatte sich vor der Wand niedergekniet und musterte die Blutspuren auf dem Putz mit zusammengekniffenen Augen. «Das sind keine Flecken», sagte er schließlich, den Blick starr auf das Blut an der Wand gerichtet. «Das sind Buchstaben.»
Tron nickte. «Er hat etwas an die Wand geschrieben.
Mit seinem eigenen Blut.»
«Wieso hat er seine Botschaft nicht in den Staub geschrieben?», fragte Dr. Lionardo.
Tron lächelte. «Das Risiko, dass jemand die Schrift im Staub zerstören würde, war viel zu groß. Also blieb ihm nur noch die Wand, um uns den Namen des Mörders mitzuteilen.»
Beust, immer noch auf den Knien, drehte sich um. «Was lesen Sie, Commissario? Ich kann ein D, ein A und ein N erkennen.»
Tron hatte seinen Kneifer aufgesetzt und war ebenfalls vor der Schrift an der Wand in die Knie gegangen. «Ich lese das Wort ‹Daniel›», sagte er schließlich. «Und dahinter stehen noch ein paar Ziffern oder Buchstaben.»
«Es könnte sich um eine Fünf, eine Zwei und eine Neun handeln», mutmaßte Beust.
«Der Name oder der Vorname des Mörders», sagte Tron.
Beust runzelte nachdenklich die Stirn. «Es sieht fast aus, als hätte er den Namen verschlüsselt.»
«Warum sollte er den Namen des Mörders verschlüsseln?»
Der Kapitänleutnant erhob sich ächzend und ordnete umständlich die goldene Uhrkette auf seiner roten Weste.
«Vielleicht hat er befürchtet», sagte er schließlich, «dass der Mörder zurückkommt, seinen Namen an der Wand entdeckt und ihn wieder auslöscht. Eine auf den ersten Blick sinnlose Kritzelei hätte er übersehen können.»
Tron überlegte einen Moment lang. «Fest steht jedenfalls, dass eine zweite Person von diesem Treffen gewusst hat. Eine Person, die den Ort und die ungefähre Zeit des Treffens kannte. Vielleicht wollte der Erpresser jemanden für den Fall in der Nähe haben, dass es zu einer tätlichen Auseinandersetzung
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