Venezianische Versuchung
darüber nachgedacht hatte, und zwar mehr als einmal. Aber noch wurde sie von Zweifeln gequält. Würde sie diesen großen Schritt jemals tun wollen? Ganz gleich, wie viel Richard ihr auch bedeutete, ihr blieben nur etwa zwei Wochen mit ihm. Dafür konnte sie unmöglich all ihre moralischen Überzeugungen aufgeben. Oder?
„Das wird nicht nötig sein“, erklärte sie dem noch immer wartenden Diener. „Gehen Sie schlafen!“
„Was wollte der Mann?“, erkundigte Richard sich. „Ich habe ein paar Worte verstanden. Er sagte etwas über die Schlafzimmer, nicht wahr?“
Mit ihrer Antwort wollte sie sich so nah wie möglich an die Wahrheit halten. Also sagte sie: „Er wollte wissen, ob er unsere Schlafräume heizen soll, da die Feuer bereits gelöscht worden oder zumindest heruntergebrannt sind. Ich habe ihm mitgeteilt, dass sei nicht nötig.“
„Gut.“ Richard nickte und schaute fragend zu dem Lakaien hin, der sich noch immer nicht entfernt hatte.
Er war zu einem Tischchen getreten und kam jetzt mit einem kleinen Tablett, auf dem ein Brief lag, zurück zu Jane. „Dies ist während Ihrer Abwesenheit für Sie abgegeben worden.“
Sie musterte das versiegelte Couvert, nahm es entgegen und drehte es ein wenig ratlos in den Händen.
„Gute Nacht, Euer Gnaden, Miss Wood.“ Mit einer Verbeugung zog der Diener sich endlich zurück.
„Was zum Teufel ist das?“, fragte Richard, der einen Blick auf die in einer sehr selbstbewussten Handschrift geschriebene Adresse geworfen hatte. „Sie haben doch nicht etwa einen Liebesbrief von einem anderen Mann bekommen?“
„Es ist eine Nachricht von Signor di Rossi“, erklärte sie, „und ganz bestimmt handelt es sich nicht um einen Liebesbrief. Der Signore ist ein angesehener Gentleman, der sehr viel über die alten Meister weiß und selbst eine große und wertvolle Gemäldesammlung besitzt. Sie kennen seinen Namen, Richard. Einer Ihrer Freunde in England gab uns ein Empfehlungsschreiben an den Signore mit.“
Er zuckte die Schultern. „Um diese Dinge hat Potter sich gekümmert. Er war es, der alles für Ihre Reise mit meinen Töchtern vorbereitet hat. Ich selbst habe den Namen di Rossi nie gehört. Ein Sammler, sagen Sie? Dann ist er wohl reich, alt und verknöchert?“
„O nein. Er ist sehr charmant und entgegenkommend.“ Jane brach das Siegel auf, faltete die Seite auseinander und überflog die Zeilen, die di Rossi geschrieben hatte. „Ah, er ist wirklich sehr freundlich. Dies ist eine Einladung. Er schlägt mir vor, ihn ins Theater zu begleiten.“
„Da habe ich eine bessere Idee“, sagte Richard. „Sie gehen mit mir ins Theater. Dann können Sie mir diesen charmanten Gentleman in der Pause vorstellen.“
Überrascht musterte sie sein Gesicht. Er wirkte gelassen, und doch war irgendetwas anders geworden. Lag es an dem Ausdruck seiner Augen? Sein Mund lächelte, doch sein Blick war ernst. Was war nur los mit ihm?
Und dann begriff sie. „Sie sind eifersüchtig“, entfuhr es ihr. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Sie sind eifersüchtig auf einen vornehmen Venezianer, von dessen Existenz Sie bis vor zwei Minuten nichts ahnten.“
Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Ja, ich bin eifersüchtig.“
„Aber dafür gibt es keinen Grund!“ Sie lächelte jetzt, weil die neue Situation ihr viel besser gefiel, als sie jemals erwartet hätte. Nie zuvor hatte sie einen Mann gekannt, der ihretwegen von Eifersucht geplagt worden war. Sicher, ihr lag nichts daran, Macht über andere, schon gar nicht über Richard, auszuüben. Aber wenn er eifersüchtig war, dann hieß das auch, dass sie ihm viel, sehr viel bedeutete. Das zu spüren tat ihr gut. „Signor di Rossi hat mir als Fremdenführer gedient und mich mit der Stadt vertraut gemacht. Er hat keine Mühen gescheut und sich stets wie ein perfekter Gentleman benommen. So ist er ein guter Freund geworden.“
„Und mehr nicht?“ Er sprach in scherzhaftem Ton, aber Jane fühlte, dass die Frage durchaus ernst gemeint war.
„Und mehr nicht!“, bestätigte sie. Sie hatte nicht vergessen, dass es Augenblicke gegeben hatte, in denen sie sich nicht sicher war, ob di Rossi wirklich keine weitergehenden Ziele verfolgte. Aber er war ihr nie zu nahe getreten. Vermutlich hatte sie lediglich seine typisch venezianische Freundlichkeit falsch gedeutet, weil diese sich so sehr von den in England herrschenden Sitten unterschied. Um Richard gegenüber ihren Standpunkt zu bestätigen, wandte sie sich ihm zu und
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